Handbuch des Strafrechts. Robert Esser
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Der Anspruch auf ein faires Verfahren ist ferner durch das Verlangen nach verfahrensrechtlicher Waffengleichheit von Ankläger und Beschuldigtem gekennzeichnet.[528] Hergeleitet wird das Gebot der Waffengleichheit aus dem Rechtsstaatsprinzip, dem Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG und aus Art. 6 Abs. 3 EMRK.[529] Einigkeit besteht allerdings darin, dass der Begriff missverständlich ist, da völlige Waffengleichheit im Strafverfahren nicht bestehen kann.[530] Verfahrensspezifische Unterschiede in der Rollenverteilung von Staatsanwaltschaft und Verteidigung können nicht in jeder Beziehung ausgeglichen sein.[531] Gesetzliche Aufgabe und Funktion der Staatsanwaltschaft als selbstständiges Organ der Strafrechtspflege verbieten es vielmehr, die im Zivilprozess zum Gebot der Waffengleichheit entwickelten Grundsätze auf den Strafprozess zu übertragen.[532] Anders als im Zivilprozess, in dem sich zwei Parteien gegenüberstehen, ist die Staatsanwaltschaft im Strafverfahren weder materiell noch formell „Partei“, sondern bei ihrer Tätigkeit auf Legalität und Objektivität verpflichtet.[533] Sie hat zu beachten, dass für den Beschuldigten die Vermutung seiner Unschuld streitet und muss ihre Ermittlungen fair führen, damit eine „zuverlässige Wahrheitserforschung“ gewährleistet ist.[534] Insbesondere hat die Staatsanwaltschaft auch die zur Entlastung des Verdächtigen dienenden Umstände zu ermitteln und für die Erhebung der entsprechenden Beweise Sorge zu tragen (§ 160 Abs. 2 StPO).[535]
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Das Gebot der Waffengleichheit im Strafprozess bedeutet nach dem Vorstehenden also im Wesentlichen zweierlei: Es verpflichtet zum einen den Gesetzgeber, die Rechte des Beschuldigten entsprechend seiner verfahrensrechtlichen Stellung als ein Subjekt mit aktiven verfahrensrechtlichen Befugnissen auszugestalten. Zum anderen enthält es das Gebot an die Strafverfolgungsbehörden und Gerichte, diese Rechte zu wahren.[536] Damit stellt das Gebot der Waffengleichheit lediglich einen Unterfall des Rechts auf ein faires Verfahren dar.[537] Das geltende Recht entspricht dem Verlangen nach Waffengleichheit in der Hauptverhandlung (§ 244 StPO); im Vorverfahren kommt hingegen der Staatsanwaltschaft ein Übergewicht zu, was zunehmend kritisiert wird.[538]
III. Prozessuale Fürsorgepflicht des Gerichts
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Die prozessuale Fürsorgepflicht der Strafgerichte gegenüber den Beteiligten des Strafverfahrens wird teilweise aus dem Bekenntnis des Grundgesetzes zum sozialen Rechtsstaat (Art. 20 Abs. 2, 3, Art. 28 Abs. 1 GG)[539] oder aus Art. 6 Abs. 1 EMRK hergeleitet,[540] teilweise im Wege einer Gesamtschau und rechtsanalogen Fortbildung aus gesetzlichen Einzelvorschriften entwickelt, die entsprechende Rechtspflichten des Gerichts enthalten.[541] Anders als das Recht auf ein faires Verfahren, das auf die Autonomie der Beteiligten und eine angemessene Verfahrensbalance zielt, will die gerichtliche Fürsorgepflicht die Kehrseite der Autonomie, die Verantwortung, erleichtern.[542] Deshalb wird die Fürsorgepflicht inhaltlich auch allgemein als gerichtliche Hilfe und Unterstützung für den Beschuldigten bei der sachgemäßen Wahrung und Wahrnehmung seiner prozessualen Belange beschrieben.[543] Diese Hilfe soll über die Pflicht zur Gewährung rechtlichen Gehörs hinausgehen.[544] Im Einzelnen werden dazu gesetzlich geregelte Hinweis- und Belehrungspflichten des Gerichts, die Pflicht zur Wahrheitsermittlung, die Pflicht zur Kundgabe eines prozessualen Fehlers und seiner Heilung, sowie die Pflicht, die Verfahrensbeteiligten vor Überraschungsentscheidungen zu bewahren, gezählt.[545] Ohne genaue verfassungsrechtliche Herleitung hat sich auch das Bundesverfassungsgericht den Gedanken der prozessualen Fürsorgepflicht des Gerichts zu Eigen gemacht.[546]
IV. Nulla poena sine culpa
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Der Grundsatz nulla poena sine culpa (Schuldprinzip) hat den Rang eines aus dem Zusammenspiel von Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1 GG und dem Rechtsstaatsprinzip abgeleiteten Verfassungsrechtssatzes,[547] der nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts sogar zu der wegen Art. 79 Abs. 3 GG unverfügbaren Verfassungsidentität zählt.[548] Nach dem Schuldprinzip müssen zum einen gesetzlicher Tatbestand und Strafrahmen, gemessen an der materiellen Gerechtigkeit, einander entsprechen.[549] Zum anderen hat die im Einzelfall verhängte Strafe in einem angemessenen Verhältnis zur Schwere der Tat und zum Maß der Schuld des Täters zu stehen.[550] Damit hat der Schuldgrundsatz als Mittel zur Begrenzung von Strafe vor allem materiell-rechtliche Bedeutung und weist Überschneidungen mit dem Verhältnismäßigkeitsprinzip auf.[551] Aus ihm folgen jedoch ebenfalls wichtige verfahrensrechtliche Anforderungen an die Schuldfeststellung, insbesondere das Gebot der Wahrheitserforschung.[552]
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Die Anknüpfung an die persönliche Schuld folgt als Konsequenz aus der freien selbstbestimmten Willensentscheidung des Täters als einer eigenverantwortlichen Persönlichkeit.[553] Die Vorstellung eines prinzipiell mit freiem Willen und eigenverantwortlich handelnden Menschen liegt der Verfassung, namentlich dem Recht auf freie Persönlichkeitsentfaltung nach Art. 2 Abs. 1 GG, zugrunde und findet auch in der zivilrechtlichen Anerkennung der Privatautonomie ihren Ausdruck.[554] Dementsprechend hat auch das Strafrecht im Regelfall von der Fähigkeit des Einzelnen auszugehen, sich frei für Recht oder Unrecht entscheiden zu können.[555] Entscheidet sich der Einzelne bewusst oder aus Nachlässigkeit für das Unrecht, lädt er strafrechtliche Schuld auf sich.[556] Philosophische und neurobiologische Erkenntnisse zur Willens(un)freiheit des Individuums sind für die normative Setzung des strafrechtlichen Schuldprinzips unerheblich, da jede Rechtsordnung auf Zurechnungsregeln angewiesen ist.[557] Nur in Ausnahmefällen kann gegen einen Schuldunfähigen (§§ 19, 20 StGB) oder einen schuldlos Handelnden (§ 35 StGB) ein Schuldvorwurf nicht erhoben und darf daher keine Strafe verhängt werden.
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Nach der Judikatur des Bundesverfassungsgerichts folgt aus dem Schuldprinzip zwingend, dass die Schuld an eine konkrete Tat anknüpfen muss; die Schuld des Täters ist also „Tatschuld“.[558] Der Schuldgrundsatz steht damit der Lehre vom normativen Tätertyp entgegen, die vor allem im nationalsozialistischen Rechtsdenken verhaftet war[559] und in Einzelfällen im geltenden StGB weiterhin aufscheint.[560] Zu Recht hat deshalb eine Expertengruppe vorgeschlagen, das in §§ 211, 212 StGB enthaltene Relikt der normativen Tätertypen („Mörder“, „Totschläger“) zu reformieren.[561] Das verfassungsrechtliche Bedenken an der Lehre vom normativen Tätertyp liegt nämlich vor allem darin, dass sie auf die „Volksanschauung“, wer typischerweise als Unrechtstäter in Betracht kommt, zurückgreift[562] und wegen dieser Unbestimmtheit im Einzelfall zu einer Strafbarkeitserweiterung führen kann. Gewisse Überschneidungen dieser Lehre gibt es mit dem – eindeutig verfassungswidrigen – Konzept eines sog. „Feindstrafrechts“ und dem ebenfalls nicht unproblematischen Ansatz eines „Gesinnungsstrafrechts“.[563] Auch das gegenwärtig diskutierte Unternehmensstrafrecht, wonach Straftaten unter Umständen auch Verbänden und juristischen Personen des Privatrechts zugerechnet werden, reibt sich mit den hergebrachten Anforderungen des Schuldgrundsatzes.[564]
V. Unschuldsvermutung
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Die in Art. 6 Abs. 2 EMRK statuierte Unschuldsvermutung genießt in Deutschland Verfassungsrang, obgleich sie im Grundgesetz nicht ausdrücklich normiert ist. Unter Rückgriff auf die Judikatur des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte[565] erkennt das Bundesverfassungsgericht die Unschuldsvermutung als besondere Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips mit Berührungspunkten zum Fairnessgebot, zum Schuldprinzip und zur Menschenwürdegarantie an.[566] Zugleich verdeutlichen die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, dass die Unschuldsvermutung über das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG), jedenfalls aber über Art. 2 Abs. 1 GG subjektivrechtlich einklagbar ist.[567] Die Unschuldsvermutung schützt den Beschuldigten zum einen vor sämtlichen Nachteilen, die einem Schuldspruch