Handbuch des Strafrechts. Robert Esser
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VI. Nemo tenetur se ipsum accusare
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Der althergebrachte Grundsatz der Aussagefreiheit des Beschuldigten und des Verbots des Zwangs zur Selbstbelastung ist zwar in Art. 14 Abs. 3 lit. g IPbpR verankert, findet aber weder im Grundgesetz noch in der Europäischen Menschenrechtskonvention explizite Erwähnung.[571] Dennoch wird der nemo tenetur-Grundsatz als Verfassungsprinzip qualifiziert, das zum einen in engem Zusammenhang mit der Unschuldsvermutung des Art. 6 Abs. 2 EMRK und dem Kernbereich eines fairen Verfahrens i.S.d. Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK steht, zum anderen im Rechtsstaatsprinzip und in der Menschenwürdegarantie, wenigstens aber im allgemeinen Persönlichkeitsrecht wurzelt.[572] Geschützt ist die Freiheit von Zwang, sich durch eigene Aussagen einer Straftat zu bezichtigen oder zu der eigenen Überführung aktiv beizutragen.[573] Der tiefere Grund der verfassungsrechtlichen Garantie der Aussagefreiheit des Beschuldigten ist freilich darin zu sehen, dass jedweder Folter oder unmenschlichen Behandlung zur Gewinnung von selbstbelastenden Aussagen entgegengewirkt werden soll. Deshalb geht der Schutz des nemo tenetur-Prinzips über die bloße Aussagefreiheit des Beschuldigten hinaus und ergreift personell auch Aussageverweigerungsrechte von Zeugen. Während dem Zeugnisverweigerungsrecht nach §§ 52–54 StPO der Gedanke zugrunde liegt, nahen Verwandten und bestimmten Vertrauenspersonen des Beschuldigten den Konflikt zwischen Wahrheitspflicht und anderen grundgesetzlich verbrieften Rechten, etwa dem Recht auf Intim- oder Privatsphäre (Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG), zu ersparen,[574] zielt das Aussageverweigerungsrecht nach § 55 StPO allein auf die Wahrung des nemo tenetur-Prinzips.
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Inhaltlich ist der nemo tenetur-Grundsatz tendenziell weit zu verstehen. So darf das Schweigen des Beschuldigten nicht als belastendes Indiz gegen ihn verwendet werden, wenn er die Einlassung zur Sache vollständig verweigert hat.[575] Anderes gilt allerdings in Fällen des Teilschweigens; insoweit dürfen im Rahmen der Beweiswürdigung nachteilige Schlüsse gezogen werden, da der Kern der Menschenwürde, aus der der Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit folgt, nicht berührt ist.[576] Auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte sieht das Schweigerecht des Beschuldigten nicht als absolut geschützt an.[577] Er hält aber – ebenso wie inzwischen auch das Bundesverfassungsgericht – den nemo tenetur-Grundsatz dann für verletzt, wenn ein Beschuldigter, obwohl er sich auf sein Schweigerecht berufen hat, unbemerkt einer vernehmungsähnlichen Befragung durch einen verdeckten Ermittler unterzogen wird.[578] Zu weit gehen würde es jedoch, den nemo tenetur-Grundsatz schlechthin auf einen Schutz gegen Täuschung oder List zu erstrecken; erst recht schützt das Verbot nicht gegen heimliche Ermittlungsmaßnahmen.[579] Insoweit ist auch der Einsatz von Lockspitzeln („agents provocateurs“) als Ermittlungsmaßnahme zur Bekämpfung von schwerer Kriminalität grundsätzlich statthaft.[580] Unter Rückgriff auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte[581] judiziert der zweite Strafsenat des Bundesgerichtshofs jedoch nunmehr, dass aktive Tatverleitungen durch physischen oder psychischen Druck zu einem Verfahrenshindernis[582] und nicht mehr lediglich zur Strafmaßreduzierung führen können.[583]
VII. In dubio pro reo
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Der strafverfahrensrechtliche Grundsatz „im Zweifel für den Angeklagten“ ist weder in der Strafprozessordnung noch im Grundgesetz ausdrücklich niedergelegt. Obwohl das Bundesverfassungsgericht diesen Grundsatz seinen Entscheidungen zugrunde legt, hat es dessen verfassungsrechtlichen Rang bislang offengelassen.[584] Da das Prinzip in dubio pro reo letztlich aus einem Zusammentreffen von materiellem Schuldgrundsatz und prozeduraler Unschuldsvermutung folgt und diese beiden Grundsätze jeweils Verfassungsrang genießen, liegt es freilich nahe, auch dem in dubio-Grundsatz gewohnheitsrechtlichen Verfassungsrang zuzusprechen.[585] In der Sache ist der Grundsatz allerdings eng auszulegen. So ist er nicht schon dann verletzt, wenn der Richter hätte zweifeln müssen, sondern nur dann, wenn er verurteilt, obgleich er tatsächlich zweifelt.[586] Eine fehlerhafte Beweisaufnahme oder -würdigung verletzt deshalb nur dann spezifisches Verfassungsrecht, wenn sich das Gericht von rechtsstaatlichen Grundsätzen so weit entfernt hat, dass der rationale Charakter der Entscheidung verlorengeht und sie keine tragfähige Grundlage mehr für die mit einem Schuldspruch einhergehende Strafe sein kann. Der Zweifelssatz bezieht sich außerdem nicht auf einzelne Beweiselemente, sondern erst auf die abschließende Gewinnung der Überzeugung aufgrund der gesamten Beweissituation; er ist also keine Beweis-, sondern eine Entscheidungsregel.[587] Allerdings können bestimmte Geheimhaltungsinteressen der Exekutive im Strafverfahren durchaus in dubio pro reo wirken.[588]
1. Abschnitt: Das Strafrecht im Gefüge der Gesamtrechtsordnung › § 2 Verfassungsrechtliche Vorgaben für das Strafrecht › E. „Strafverfassungsrecht“ und verfassungsgerichtliche Kontrolle einfachgesetzlicher Gewährleistungen
E. „Strafverfassungsrecht“ und verfassungsgerichtliche Kontrolle einfachgesetzlicher Gewährleistungen
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Die zahlreichen Verfassungsgarantien, die für das materielle und das prozessuale Strafrecht von Relevanz sind, werfen die Frage nach ihrem Einfluss auf das einfache Recht und damit auch nach dem Umfang der verfassungsgerichtlichen Kontrolldichte auf. Dass alle Vorschriften des einfachen Rechts mit der Verfassung übereinstimmen müssen, ergibt sich aus dem Vorrang der Verfassung, der Bindung des Gesetzgebers an die verfassungsmäßige Ordnung und die Grundrechte (Art. 1 Abs. 3, 20 Abs. 3 GG) sowie, besonders für das Strafrecht, auch aus dem Rechtstaatsprinzip und seinen wesentlichen Teilgrundsätzen. Andererseits trägt freilich auch das einfache Recht durch seine Konkretisierungsfunktion zu den verfassungsrechtlichen Gewährleistungen gegenüber der staatlichen Strafgewalt bei;[589] diese umgekehrte Einflussnahme gilt namentlich für die normgeprägten Justizgrundrechte. Die bloße Feststellung der Verfassungsrelevanz gibt jedoch noch keine Auskunft darüber, ob bestimmte strafrechtliche oder strafprozessuale Vorschriften auch verfassungsgeboten sind[590] und damit ihre Verletzung zugleich einen Verfassungsverstoß begründet, der vom Bundesverfassungsgericht kontrolliert und sanktioniert werden kann.[591] Insgesamt besehen, dürfte eine solche verfassungsrechtliche „Hochzonung“ strafrechtlicher Regelungen eher eine seltene Ausnahme bleiben. Denn nur wenige das Strafverfahrensrecht beherrschende Prinzipien, wie etwa das Folter- und Missbrauchsverbot, können als unmittelbar verfassungsrechtlich verbürgt angesehen werden mit der Folge, dass sie der Auslegungskompetenz des Bundesverfassungsgerichts umfänglich unterworfen sind. Die Mehrzahl strafverfahrensrechtlicher Grundsätze lässt sich hingegen nur mittelbar oder in einer Gesamtschau auf Verfassungsgrundsätze zurückführen.[592] Dies gilt beispielsweise für das strafrechtliche Schuldprinzip und den nemo tenetur-Grundsatz.[593] Auch die Grundsätze der Mündlichkeit und Öffentlichkeit der Verhandlung (§§ 33 Abs. 1, 250 f. StPO, § 169 GVG) stellen nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts schlichte Prozessrechtsmaximen dar, die kein eigenständiges verfassungsrechtliches Fundament aufweisen, sondern auf verschiedene Verfassungsprinzipien zurückzuführen sind.[594] Mit Ausnahme der aufgrund von Art. 26 Abs. 1 S. 2 GG getroffenen Regelungen des § 80a StGB und des § 13 VStGB[595] entspringt das materielle Strafrecht sogar überhaupt keinem Verfassungsgebot; die aus den Grundrechten folgenden Schutzpflichten gelten nicht absolut, sondern erfordern jeweils eine Abwägung mit anderen – meist abwehrrechtlichen – Belangen.