Handbuch des Strafrechts. Robert Esser
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Noch deutlicher als gegenüber der Fachgerichtsbarkeit nimmt das Bundesverfassungsgericht seine Kontrollbefugnis gegenüber dem Gesetzgeber zurück. Gerade wegen der aus dem Demokratieprinzip folgenden Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers hat die verfassungsrechtliche Überprüfung von materiellen Strafnormen bisher noch zu keinen nennenswerten Beanstandungen durch das Bundesverfassungsgericht geführt.[605] Wiederkehrend betont das Bundesverfassungsgericht, dass es nicht überprüfen könne, ob der Gesetzgeber mit seiner strafrechtlichen Regelung die zweckmäßigste, vernünftigste oder gerechteste Lösung gefunden habe.[606] Dennoch steht zugleich außer Zweifel, dass der Gesetzgeber beim Erlass von Strafvorschriften nicht ungebunden agieren kann. Das Bundesverfassungsgericht hebt nämlich auch hervor, dass es darüber zu wachen habe, dass die Strafvorschriften materiell im Einklang mit den Grundentscheidungen des Grundgesetzes stehen.[607] Diese tendenziell gegenläufigen Aussagen kennzeichnen das Dilemma der bundesverfassungsgerichtliche Kontrolle des Strafgesetzgebers; zum einen geht es um die Wahrung demokratisch verankerter Gestaltungsfreiheit, zum anderen um die unübersteigbaren rechtsstaatlichen Grenzen der Verfassung.[608] Zwar halten Grundrechtsdogmatik und Verhältnismäßigkeitsprinzip ebenso wenig wie die strafrechtlichen Rechtsgutstheorien konkrete Antworten auf die Frage bereit, wie der inhaltliche Anwendungsbereich des materiellen Strafrechts rechtsstaatlich zu bestimmen ist. Ihr Zweck und Verdienst liegt allerdings auch nicht in einer exakt berechenbaren Ergebnisgebundenheit,[609] sondern vielmehr in dem Bemühen um eine umfassende und objektive Rationalität des verfassungsrechtlich gebotenen Abwägungsvorgangs.
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Unüberwindbare rechtsstaatliche Grenzen dürften jedoch dort zu ziehen sein, wo Wandlung und Aufweichung des modernen Strafrechts unter den Vorzeichen präventiver Kontrolle und Steuerung des Soziallebens sich mit den freiheitssichernden Konzepten und Instrumenten der Verfassung stoßen.[610] Dies gilt einmal mehr, als der expansive Gebrauch strafrechtlicher Mittel zur Bändigung von abstrakten Risiken, zumal im Kampf gegen den (internationalen) Terrorismus, ohnehin nicht die erwünschte absolute Sicherheit erzielen kann, sondern umgekehrt riskiert, in eine umfassende Freiheitsbegrenzung aller Bürger zu münden.[611] Das Bundesverfassungsgericht bleibt daher dazu aufgerufen, nicht nur im Feld des Strafprozessrechts, sondern auch im materiellen Strafrecht „wachsam“ zu bleiben. Anderenfalls laufen auf lange Sicht auch die spezifischen verfassungsstrafrechtlichen Justizgarantien Gefahr, ihre freiheitssichernde Funktion zu verlieren.
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Ein derart umrissenes „Strafverfassungsrecht“ zielt keinesfalls auf eine „Kolonialisierung“ des materiellen Strafrechts und des Strafverfahrensrechts durch das Verfassungsrecht[612] und auch nicht auf eine Ersetzung der Strafrechtsdogmatik durch verfassungsgerichtliche Einsichten. Im Regelfall entscheidet das Bundesverfassungsgericht keinen strafrechtsdogmatischen Streit;[613] sondern denkt allein vom Verfassungsrecht her.[614] Die Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde und die verfassungsgerichtliche Beschränkung auf spezifisches Verfassungsrecht sind prinzipiell geeignete Instrumente zur Sicherung des Selbstands des einfachgesetzlichen Fachrechts[615] und des „ersten Wortes“ der Fachgerichtsbarkeit.[616] Wie jedes andere einfache Recht ist aber auch das Strafrecht in die verfassungsrechtliche Rahmenordnung eingebettet[617] und empfängt vom Grundgesetz absichernde, umformende, hegende und gelegentlich auch begrenzende Impulse.
1. Abschnitt: Das Strafrecht im Gefüge der Gesamtrechtsordnung › § 2 Verfassungsrechtliche Vorgaben für das Strafrecht › Ausgewählte Literatur
Ausgewählte Literatur
Appel, Ivo | Verfassung und Strafe. Zu den verfassungsrechtlichen Grenzen staatlichen Strafens, 1998. |
Gärditz, Klaus F. | Strafbegründung und Demokratieprinzip, Der Staat 49 (2010), S. 331 ff. |
Greco, Luís | Verfassungskonformes oder legitimes Strafrecht? Zu den Grenzen einer verfassungsrechtlichen Orientierung der Strafrechtswissenschaft, in: Brunhöber u.a. (Hrsg.), Strafrecht und Verfassung, 2013, S. 13 ff. |
Gusy, Christoph | Verfassungsfragen des Strafprozessrechts, StV 2002, S. 153 ff. |
Heubel, Horst | Der „fair trial“ – ein Grundsatz des Strafverfahrens? Zugleich ein Beitrag zum Problem der „verfassungskonformen“ Rechtsfortbildung im Strafprozess, 1981. |
Hill, Hermann | Verfassungsrechtliche Gewährleistungen gegenüber der staatlichen Strafgewalt, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. VI, 2. Aufl. 2001, § 156. |
Jahn, Matthias | Strafverfassungsrecht: Das Grundgesetz als Herausforderung für die Dogmatik des Straf- und Strafverfahrensrechts, GS Vogel, S. 63 ff. |
Kaspar, Johannes | Verhältnismäßigkeit und Grundrechtschutz im Präventionsstrafrecht, 2014. |
Klose, Peter | „Ius puniendi“ und Grundgesetz, ZStW 86 (1974), S. 33 ff. |