Handbuch des Strafrechts. Robert Esser
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(Art. 104 GG)
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Art. 104 GG, der rechtshistorisch in der Tradition des Habeas-Corpus-Gedankens steht und von Art. 5 EMRK inzwischen maßgeblich geprägt ist,[446] dient vor allem der Grundrechtssicherung durch Verfahren.[447] Art. 104 GG regelt in Abs. 1 die formellen Voraussetzungen einer Freiheitsbeschränkung und etabliert in Abs. 2 bis Abs. 4 zusätzliche Anforderungen an den für das Strafrecht besonders relevanten Unterfall der Freiheitsentziehung.[448] Darüber hinaus steht Art. 104 GG als grundrechtsgleiches Recht in unlösbarem Zusammenhang mit der Unverletzlichkeit der Freiheit der Person nach Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG. Wegen dieser Verknüpfung stellen Verstöße gegen Art. 104 GG stets auch eine Verletzung von Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG dar.[449]
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Die materiell-rechtliche Anknüpfung des Art. 104 GG an Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG begründet die Identität des Schutzguts;[450] Freiheit der Person meint ausschließlich die körperliche Bewegungsfreiheit.[451] Eine Beschränkung dieser Freiheit liegt vor, wenn jemand durch die öffentliche Gewalt gegen seinen Willen daran gehindert wird, einen Ort aufzusuchen oder sich dort aufzuhalten, der ihm an sich (tatsächlich oder rechtlich) zugänglich ist.[452] Der Eingriff muss also ein „negatives Moment“ aufweisen. Die bloße Verpflichtung, an einem bestimmten Ort zu erscheinen, bedeutet noch keine Freiheitsbeschränkung im Sinne von Art. 104 GG.[453] Die Pflicht zur Aussage von Zeugen und Sachverständigen bei Gericht oder die Teilnahme des Angeklagten am Strafverfahren (§§ 230 ff. StPO) ist daher von Art. 104 GG nicht erfasst. Die erforderliche Präsenz ist bloße Nebenpflicht der Handlungspflicht und bemisst sich allein nach Art. 2 Abs. 1 GG.[454] Erst die zwangsweise Vorführung oder Verurteilung zu einer Haftstrafe wegen der Nichtbeachtung der Vorladung ist ein freiheitsbeschränkender Eingriff und darf wegen der Anordnung in Art. 104 Abs. 1 S. 1 GG nur aufgrund eines förmlichen Gesetzes geschehen.[455]
1. Allgemeine Anforderungen an Freiheitsbeschränkungen
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Art. 104 Abs. 1 S. 1 GG nimmt den in Art. 2 Abs. 2 S. 3 GG enthaltenen Gesetzesvorbehalt auf und verstärkt ihn für alle Freiheitsbeschränkungen, indem er neben der Forderung nach einem förmlichen Gesetz die Pflicht, die sich aus diesem Gesetz ergebenden Formvorschriften zu beachten, zum Verfassungsgebot erhebt.[456] Gesetz in diesem Sinne können sowohl Bundes- als auch Landesgesetze sein.[457] Erforderlich ist aber ein formelles Gesetz, das Freiheitsbeschränkungen in berechenbarer, messbarer und kontrollierbarer Weise regelt.[458] Ebenso wie bei Art. 103 Abs. 2 GG lässt das Bundesverfassungsgericht freilich auch im Rahmen des Art. 104 Abs. 1 GG eine Spezifizierung des Gesetzes, das die Freiheitsbeschränkung regelt, durch Blankettgesetze zu, sofern das ermächtigende Gesetz hinreichend deutlich bestimmt, welches Handeln zu einer Freiheitsbeschränkung führen kann.[459]
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Bei den Formvorschriften, deren Einhaltung Art. 104 Abs. 1 S. 1 GG fordert, handelt es sich um die grundlegenden verfahrensrechtlichen Bestimmungen des betreffenden Gesetzes.[460] Dazu zählen etwa Antragserfordernisse, Fristen und vor allem die vorherige Anhörung des Betroffenen.[461] So gehört das in § 115 Abs. 2 StPO enthaltene Gebot, den Beschuldigten nach Ergreifung aufgrund eines Haftbefehls vernehmen zu lassen, zu den bedeutsamen Verfahrensgarantien i.S.d. Art. 104 Abs. 1 S. 1 GG.[462] Das in § 116 Abs. 4 StPO zum Ausdruck kommende Gebot, die Aussetzung des Vollzugs eines Haftbefehls durch den Richter nur zu widerrufen, wenn sich die Umstände im Vergleich zur Beurteilungsgrundlage zur Zeit der Gewährung der Verschonung verändert haben, gehört ebenfalls zu den unabdingbaren Verfahrensgarantien, die Art. 104 Abs. 1 S. 1 GG im Blick hat.[463] Ein Verstoß gegen die im ermächtigenden Gesetz vorgeschriebenen Formen führt zur Verfassungswidrigkeit des Eingriffs;[464] eine rückwirkende Heilung des Verfahrensmangels ist ausgeschlossen.[465]
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Ferner enthält das Misshandlungsverbot des Art. 104 Abs. 1 S. 2 GG eine explizite materielle Regelung für den Vollzug jedweder Freiheitsbeschränkung, gleichgültig, ob sie von der Exekutive oder der Judikative angeordnet ist.[466] Dieses vorbehaltlose Verbot, das auf einfachgesetzlicher Ebene in § 136a StPO konkretisiert ist, wird durch das absolute und sogar im Falle des Notstands nicht derogierbare Folterverbot nach Art. 3 EMRK noch einmal verstärkt.[467] Freilich richtet sich die Schutzrichtung des Misshandlungsverbots nicht gegen das Festhalten selbst; derartige Eingriffe sind unter dem Aspekt des Art. 104 Abs. 1 S. 2 GG grundrechtsneutral.[468] Der Schutz der körperlichen und psychischen Integrität ist im Polizeigewahrsam oder in Gefängnissen aber nicht geringer als außerhalb.[469] Selbst in Extremsituationen wie bei Kindesentführungen oder drohenden terroristischen Anschlägen ist Folter des Festgenommenen ausnahmslos untersagt.[470] Auch die Androhung von Folter zur Gewinnung von Informationen zum Schutz elementarer Verfassungsgüter stellt eine im Blick auf Art. 104 Abs. 1 S. 2 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG verbotene Vernehmungsmethode dar.[471] Nicht alles, was ethisch möglicherweise legitimiert werden kann, ist verfassungsrechtlich hinnehmbar.[472] Demgegenüber liegt in einer Kontaktsperre (§§ 31–38a EGGVG) keine Misshandlung, solange sie drei Monate nicht überschreitet.[473] Die Zwangsernährung (§ 101 StVollzG) dürfte ebenfalls keinen Verstoß gegen Art. 104 Abs. 1 S. 2 GG darstellen;[474] sie ist aber am allgemeinen Persönlichkeitsrecht zu messen.[475] Das zwangsweise Verabreichen von Brechmitteln zur Beweissicherung wurde vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte indes zu Recht als Verstoß gegen Art. 3 EMRK gewertet.[476]
2. Spezielle Vorgaben bei Freiheitsentziehungen
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Für den schwersten Eingriff in das Recht der persönlichen Freiheit, die Freiheitsentziehung, fügt Art. 104 Abs. 2 S. 1 GG dem Vorbehalt des förmlichen Gesetzes aus Art. 104 Abs. 1 GG den weiteren verfahrensrechtlichen Vorbehalt einer richterlichen Entscheidung hinzu, der nicht zur Disposition des Gesetzgebers steht.[477] Eine Freiheitsentziehung liegt vor, wenn die – tatsächlich und rechtlich an sich gegebene – körperliche Bewegungsfreiheit nach jeder Richtung hin aufgehoben, sie also auf einen eng umgrenzten Raum beschränkt ist.[478] Ein Einsperren im Wortsinne ist nicht erforderlich; die getroffene Maßnahme (z.B. Medikation) bedarf aber einer tatsächlichen Auswirkung auf die körperliche Bewegungsfreiheit und einer gewissen Mindestdauer.[479] Wird die körperliche Bewegungsfreiheit nur kurzzeitig aufgehoben, wie etwa bei zwangsweisen Vorführungen, liegt zwar eine Freiheitsbeschränkung, nicht aber eine Freiheitsentziehung vor.[480] Aus welcher Motivation eine Freiheitsentziehung erfolgt, ist unbeachtlich. Erfasst werden nicht nur repressive Maßnahmen wie Freiheitsstrafen, sondern etwa auch die (präventive) Sicherungsverwahrung.[481] Die in Art. 104 Abs. 3 GG genannte „Festnahme“ stellt ebenfalls einen Anwendungsfall der Freiheitsentziehung dar.[482]
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Die Entscheidung über Zulässigkeit und Fortdauer einer Freiheitsentziehung obliegt nach Art. 104 Abs. 2 und Abs. 3 GG ausschließlich dem Richter. Der Richtervorbehalt kommt nicht nur bei der erstmaligen Anordnung der Freiheitsentziehung, sondern auch zum Tragen, wenn eine Freiheitsentziehung über den ursprünglich festgelegten Termin hinaus verlängert wird.[483] Auch sonstige Folgeentscheidungen unterfallen dem (erneuten) Richtervorbehalt.[484] Damit steht die Freiheit der Person nach Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG unter erhöhtem prozeduralen Schutz; der Richter hat in vollem Umfang die Verantwortung für den Freiheitseingriff zu übernehmen.[485] Er muss selbst die Tatsachen feststellen, die eine Freiheitsentziehung rechtfertigen,[486] und er muss die betroffene Person persönlich anhören,[487] und zwar auch, wenn diese nur eingeschränkt äußerungsfähig ist.[488] Die richterliche Entscheidung ist einzelfallbezogen schriftlich zu begründen; das bloße Ankreuzen vorgegebener Textbausteine genügt nicht.[489]
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Grundsätzlich bedarf die Entziehung der persönlichen Freiheit einer vorherigen