Jugendgerichtsgesetz. Herbert Diemer

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Jugendgerichtsgesetz - Herbert Diemer Heidelberger Kommentar

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Hamm StV 2001, 176: 14 Taxifahrten, ohne zu zahlen, reichen nicht als Begründung für die Annahme schädlicher Neigungen). Nach der Rechtsprechung begründet auch ein erheblicher Tatvorwurf noch keinen Persönlichkeitsmangel (für Vergewaltigung = BGH StV 1998, 331; für schweren Raub = BGH StV 1984, 253; für Beihilfe zur versuchten schweren räuberischen Erpressung = BGH NStZ 1988, 499; für Totschlagsversuch = BGH StV 1985, 155; für den Erwerb der harten Droge Heroin = OLG Zweibrücken StV 1989, 313; für den Handel mit Heroin = AG Bremen-Blumenthal StV 1994, 600, für gefährliche Körperverletzung = BGH NStZ 2010, 280 = ZJJ 2009, 261: Erhebliche Persönlichkeitsmängel müssen schon vor der Tat, wenn auch verborgen, angelegt und die Ursache der Tat sein. Eine „möglicherweise falsche Reaktion auf eine ausländerfeindliche Demütigung“ steht der Annahme von schädlichen Neigungen ebenso entgegen wie ein besonders großer Einfluss durch einen Mitangeklagten).

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      Schon die bisherige höchstrichterliche Rechtsprechung interpretiert also den Begriff des Persönlichkeitsmangels restriktiv – eine Notwendigkeit, die durch das 1. JGGÄndG noch weiter verstärkt wird.

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      Zweite Voraussetzung der Annahme schädlicher Neigungen ist die Erforderlichkeit einer längeren Gesamterziehung. Dabei ist Gesamterziehung als Erziehung in einer Jugendstrafanstalt bzw. einer für den Vollzug von Jugendstrafe vorgesehenen Einrichtung oder (da auch die Vollstreckung der Jugendstrafe wegen schädlicher Neigungen zur Bewährung ausgesetzt werden kann) im Rahmen der Bewährungshilfe zu verstehen. Die schädlichen Neigungen müssen ein solches (besonderes) Ausmaß erreicht haben, dass Erziehungsmaßregeln oder Zuchtmittel zur Erziehung nicht mehr ausreichen (eindrucksvoll AG Bremen-Blumenthal StV 1994, 600: Weisung, sich in eine betreute Wohngemeinschaft zu begeben). Hinter § 17 Abs. 2 und noch deutlicher hinter § 18 Abs. 2 steht die Vorstellung, dass ein stationärer Erziehungsaufenthalt erfolgversprechend sein kann. Die Realität im Vollzug (vgl. z.B. Dünkel/Geng 2007, S. 143 ff.; DVJJ (Hrsg.), 1990, S. 74 ff. und 356 ff.) beweist jedoch trotz aller Bemühungen des Personals das Gegenteil. Die kriminologischen Negativbefunde sind in der Entscheidung OLG Schleswig NStZ 1985, 475 anschaulich aufbereitet. Die Rückfallbelastung nach einer verbüßten Jugendstrafe bleibt weiterhin extrem hoch. Aktuell werden die nach verbüßter Jugendstrafe Entlassenen zu 77,8 % erneut straffällig und 45 % kehren wieder in den Vollzug zurück (Jehle/Heinz/Sutterer S. 55). Da inzwischen auch der Gesetzgeber des 1. JGGÄndG von den schädlichen Nebenwirkungen der Jugendstrafe für die jugendliche Entwicklung ausgeht, muss diese zweite Voraussetzung zukünftig ebenfalls noch restriktiver interpretiert werden. Freilich soll nicht aus Gründen der Verhältnismäßigkeit auf weniger einschneidende Maßnahmen ausgewichen werden dürfen, wenn diese erkennbar nicht ausreichen, die schädlichen Neigungen zu verringern (OLG Zweibrücken NStZ-RR 1998, 118 bei einem Heranwachsenden, der drei Tage nach der Entlassung aus der Jugendstrafanstalt einschlägig rückfällig geworden ist. Negativen Wirkungen der Jugendstrafe als „ungeeigneter Reaktion“ kann mit den Möglichkeiten der Bewährung begegnet werden).

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      Als dritte Voraussetzung verlangt die Rechtsprechung die Befürchtung, dass weitere Straftaten begangen werden (BGH NStZ 1988, 498; BGHSt 16, 261). Erforderlich ist also eine negative Kriminalprognose i.S. einer persönlichkeitsspezifischen Rückfallgefahr. Angesichts der Probleme der Prognoseforschung (vgl. Meier Kriminologie, § 7; Boetticher u.a. 2006, S. 537 ff.: Mindestanforderungen für Prognosegutachten, mit krit. Anm. und Ergänzungen Bock StV 2007, 269 ff.) ist diese Gefahr nur schwer einzuschätzen, wobei Vorurteile zu vermeiden sind. Da diese persönlichkeitsspezifische Rückfallgefahr gleichzeitig in Beziehung gesetzt werden muss zu den Möglichkeiten des Jugendvollzugs, hat hier „ein weiteres Stück Entideologisierung des Begriffs der schädlichen Neigungen“ zu erfolgen (Kaiser 1982, S. 106). Ein längerer Zeitraum ohne erneute Straftaten ist sowohl für die Frage der schädlichen Neigungen als auch für die Prognose von Bedeutung, BGH NStZ-RR 2015, 155 u. 323. Außerdem muss eine Rückfallgefahr für erhebliche Straftaten bestehen (OLG Hamm StV 2001, 177 und NStZ-RR 1999, 377; LG Gera DVJJ-J 1998, 282), weil sich durch das 1. JGGÄndG das gesamte Sanktionsspektrum zu den alternativen ambulanten Möglichkeiten hin verschoben hat. Die häufig anzutreffende Formulierung „nicht unerhebliche Straftaten“ entspricht nicht mehr dem neuesten Gesetzesstand. Eine Begründung, der Angeklagte sei in der Vergangenheit immer wieder und „auch erheblich“ in Erscheinung getreten, genügt ohne Darstellung der Vorverurteilungen nicht für die Annahme schädlicher Neigungen, BGH NStZ 2010, 281. Leerformeln wie „hohe kriminelle Energie“ oder „Intensivtäter“ können eine exakte Subsumtion nicht ersetzen. Die Argumentation, dass der Angeklagte in wenigen Monaten über 50 Straftaten begangen habe und deswegen eine Jugendstrafe sowohl wegen schädlicher Neigungen als auch aufgrund der Schwere der Schuld zu verhängen und auch unter dem Aspekt des „gerechten Schuldausgleichs“ lang zu bemessen sei (so LG Berlin Urt. v. 27.9.2007 – 524–27/07), wird dem Erziehungsgedanken nicht gerecht.

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      Die Bejahung einer negativen Kriminalprognose für erhebliche Straftaten als Voraussetzung schädlicher Neigungen führt nicht zwangsläufig zur Verhängung von Jugendstrafe als der allerletzten Möglichkeit im jugendstrafrechtlichen Sanktionensystem. Entscheidend ist, dass Erziehungsmaßregeln oder Zuchtmittel zur Erziehung nicht ausreichen. Hier ist der dogmatische Ansatzpunkt für die Diskussion ambulanter Alternativen. Diese Diskussion ist vor dem Hintergrund neuer kriminologischer Erkenntnisse und empirischer Befunde zu führen. Leitprinzip ist dabei das moderne Verfassungsverständnis. Der Grundsatz „Im Zweifel für die Freiheit“ führt zu einer Art Beweislastumkehr, die aber den § 261 StPO nicht tangiert. Nicht die neuen ambulanten Maßnahmen müssen den Beweis erbringen, dass sie erfolgreicher als stationäre Sanktionen sind, sondern umgekehrt. Auch der Gesetzgeber des 1. JGGÄndG geht davon aus, dass dieser umgekehrte Nachweis kaum einmal geführt werden kann. Erste Praxiserfahrungen zeigen, in welchem Maße zukünftig ambulante Alternativen sinnvoll „ausgereizt“ werden sollten (Pfeiffer 1989; zur Bremer Praxis Finke NK 1991, 32). Unser Jugendstrafrechtssystem beruht nicht nur auf dem (mitunter überfrachteten, manchmal auch maßlosen oder autoritär verfremdeten) Erziehungsgedanken, sondern auf den drei „Eckpfeilern“ Erziehung, Schuld und Verhältnismäßigkeit (Heinz in: DVJJ (Hrsg.), 1990, S. 58 f. u. Pfeiffer DVJJ-J 1991, 125). Bei Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsprinzips kommt den Grundsätzen der Geeignetheit und Erforderlichkeit für die Verhängung von Jugendstrafe entscheidende Bedeutung zu (vgl. BVerfGE 30, 315 u. 392). In dem neuen, dreifach verankerten jugendstrafrechtlichen Fundament hat auch der Schuldgedanke seinen Standort. Bei den Voraussetzungen der Verhängung von Jugendstrafe ergibt sich ein Spannungsverhältnis zwischen Täter- und Tatorientierung. Seit BGHSt 15, 224 und 16, 261 versucht die höchstrichterliche Rechtsprechung, die unterschiedlichen Voraussetzungen durch den Vorrang des Erziehungsgedankens auch bei Jugendstrafe wegen Schwere der Schuld zu harmonisieren (problematisch BGH StV 1998, 336 m. krit. Anm. Streng; vgl. auch die Anm. von Dölling NStZ 1998, 39; allgemein zur Problematik Buckolt 2009, S. 45 ff.; Kurzberg 2009, S. 103–115). Diese Bemühungen sind in der Literatur heftig kritisiert worden (z.B. Meyer 1984, S. 452; Miehe 1964, S. 60; Schaffstein/Beulke Rn. 153 f.; Tenckhoff 1977, S. 487; MK-StGB-Radtke JGG § 17 Rn. 53ff.). Schädliche Neigungen und Schwere der Schuld sind eigenständige

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