Verteidigung in Vollstreckung und Vollzug. Bernd Volckart
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Die Prognosestellung ist ein sehr komplexer Vorgang. Volckart hatte dies in den Vorauflagen in einem Exkurs eindrücklich dargestellt.[10] Die Ebenen des Entscheidungsvorganges sind klar zwischen dem (klinischen) Erfahrungswissen des Sachverständigen[11] und der gerichtlichen Prognose zu trennen. Die Entscheidung, ob die mit Hilfe des Gutachters ermittelte Wahrscheinlichkeit eines Rückfalls eine Entlassung rechtfertigt, trifft der Richter. Geprägt durch öffentliche Meinung und Kriminalpolitik wird zwischen ungünstigen und günstigen Prognosen entschieden,[12] der Umschlagspunkt variiert entsprechend der politischen Diskussion. Soll den Sicherheitsbedürfnissen der Bevölkerung verstärkt Rechnung getragen werden, erhöht sich die Messlatte und es verbleiben im Zweifel mehr Gefangene länger im Strafvollzug.[13]
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Die Gesamtwürdigung von Tat, Persönlichkeit und ihrer Entwicklung während des Vollzuges ist Grundlage der Prognose. Eine Abwägung zwischen den Auswirkungen des Freiheitsentzuges und den Sicherheitsinteressen der Allgemeinheit muss getroffen werden. Welche Tatsachen als erheblich in die Prognosestellung einbezogen werden, richtet sich auch nach dem Beweisrecht der StPO. Ein prozessual zulässiges Verteidigungsverhalten des Angeklagten darf bei einer Prognoseentscheidung nicht zu seinem Nachteil gewertet werden.[14] Auch in der Exploration durch den Sachverständigen hat der Verurteilte das Recht, zu schweigen. Tatsachen, die sich bei der Prognose als ungünstig auswirken, müssen feststehen. Frühere Verurteilungen müssen sicher sein; die Verteidigung sollte positive Veränderungen herausarbeiten.[15]
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Wichtige Fehlerquelle bei der Kriminalprognose ist die Überbetonung der deliktischen Vergangenheit des Verurteilten oder frühen Versagens in beruflicher bzw. schulischer Bildung. Die mangelnde Auseinandersetzung mit der Tat wird überbewertet und verhindert so oft eine günstige Prognose. Dabei sind die Vollzugsanstalten mit der Bearbeitung selbst häufig überfordert; den Beamten und Therapeuten fehlen oft Zeit und fachliche Voraussetzungen für eine sachgerechte Deliktsbearbeitung.[16]
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Bei der Kriminalprognose wird neben der klinischen Methode auch auf statistische Prognoseinstrumente zurückgegriffen. Die klinische Prognose wird von Psychiatern und Psychologen gestellt, die entsprechend spezielle, auch kriminologische Erfahrungen mitbringen sollten. Die statistischen Prognoseverfahren nutzen Checklisten und beruhen auf der Annahme, dass die Wahrscheinlichkeit künftiger Straftaten umso größer ist, je mehr statistisch-kriminogene Merkmale einer Person zuzuschreiben sind. Das Individuum wird einer Gruppe zugeordnet, deren Rückfallquote bereits bekannt ist, die dann als individuelle Rückfallwahrscheinlichkeit interpretiert wird.[17]
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Die im angloamerikanischen Raum vorrangig angewandten Prognoseinstrumente sind die Psychopathie-Checkliste PCL-R von Hare[18], der HCR-20[19] zur Vorhersage von Gewalttaten und der SVR-20 zur Vorhersage von Gewalttaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung. Die Anwendungen sind sehr verbreitet, aber auch umstritten: die PCL-R repräsentiere einen neuen Biologismus.[20] Die verstärkt vergangenheitsbetonten und statischen Merkmale bieten kaum Spielraum für die Notierung von positiven Veränderungen. Der Straftäter bleibt Gefangener seiner Vergangenheit. Kritisiert wird aus den Kriminalrechtswissenschaften[21] auch die Zuverlässigkeit (Reliabilität) und Gültigkeit (Validität) der statistischen Verfahren.
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Das Gericht hat die Prognoseentscheidung selbst zu treffen, auch wenn es sich von einem Sachverständigen beraten lässt. Es darf die Entscheidung nicht an diesen abtreten, sondern hat seine Ausführungen zu kontrollieren.[22] Oder um es mit den Worten des BGH zu sagen: „Der Richter hat seine Entscheidung selbst zu erarbeiten und zu durchdenken.[23] Es ist die Aufgabe der Verteidigung, dafür zu sorgen, dass das angemessen geschieht.“[24]
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Psychowissenschaftliche Gutachten müssen durchschaubar („transparent“) und kontrollierbar („nachvollziehbar“) sein. Für die Verteidigung gibt es zahlreiche Ansätze, das zwingend schriftlich vorzulegende Sachverständigengutachten[25] zu prüfen. Es empfiehlt sich, auch die statistischen Prognoselisten auf (unzutreffende) Anknüpfungstatsachen aus dem Leben des Verurteilten zu hinterfragen. Die Besonderheiten bei der Exploration und Prognose von Jugendlichen und ausländischen Verurteilten ist zu beachten wie auch der Erfahrungshorizont und ggf. das Alter des Gutachters. Eine Anzahl von ungünstigen Prädiktoren lässt zunächst nur den Schluss zu, dass der Proband zu einer Risikogruppe gehört. Die eigentliche Prognose muss auch die individuelle Einschätzung in der konkreten Lebens- bzw. Entlassungssituation einbeziehen. Dazu gehört eine realistische Zukunftsperspektive, die in der helfenden Familie oder einer beruflichen Stabilisierung liegen kann. Aber auch Erwerbslosigkeit ist kein kriminogener Faktor per se und Erwerbstätigkeit kein Schutz vor Kriminalität.[26]
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Die Entscheidung, Anordnung und/oder Fortdauer der Freiheitsentziehung von einer Kriminalprognose abhängig zu machen, erzeugt zwei Arten von Opfern: diejenigen, die unter den sog. falschen Negativen zu leiden haben, und diejenigen, die als falsche Positive ungerechtfertigt eingesperrt werden/bleiben.[27] Das Fehlerrisiko muss auf beide Seiten verteilt werden: wollte man es einseitig einer Seite aufbürden, könnte man sich den ganzen Prognoseaufwand sparen, denn es hieße, die Prognose hinterrücks wieder abzuschaffen. Insbesondere ist die naheliegende Versuchung, das Fehlerrisiko bei den falschen Positiven zu verstecken, weil man diese ja nicht von den wahren Positiven unterscheiden kann, aus Gründen der Logik der Kriminalprognose unzulässig. Außerdem: Wer die Prognosesicherheit, die er erfahrungswissenschaftlich betrachtet nicht haben kann, über die rechtliche Beurteilung herbeizuzwingen versucht, der handelt unverhältnismäßig, weil er die eine Opferseite zugunsten der anderen einseitig belastet[28], und er lässt die Prinzipien der Rechtssicherheit außer Acht.[29] Die kriminalprognostische Beurteilung hat Grenzen; sie kann nicht über eine Wahrscheinlichkeitsaussage hinausgehen. Eine exakte Vorhersage menschlichen Verhaltens ist mit keiner Methode möglich.
Anmerkungen
Pfeiffer FAZ v. 5.3.2004: „Dämonisierung des Bösen“; Schröder sprach 2001 in einem Interview der BamS von „Wegschließen, und zwar für immer“, dazu u.a. Prittwitz 2003.
Da kann es kaum wundern, wenn sich integrationsfeindliche Bürgerinitiativen (Mahnwachen u.ä.) bilden oder Beschäftigte einen illegalen Streik anzetteln, weil sie die Wiedereinstellung eines verurteilten Sexualstraftäters verhindern wollen (so im Juli 2013 in Bremerhaven).
Tondorf/Tondorf 2011, 70.
Bei den verstärkt hinzugezogenen niedergelassenen Gutachtern ist bisweilen die praktische, insb. therapeutische Erfahrung zu vermissen.
Boetticher u.a. NStZ 2006, 537 (Prognosegutachten), vorher dies. NStZ 2005, 57 (Schuldfähigkeitsgutachten);