Die Wiederaufnahme in Strafsachen. Klaus Marxen
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A. Zur Praxis der Wiederaufnahme in Strafsachen und zugleich zur Konzeption des Buches
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Die Praxis der Wiederaufnahme in Strafsachen ist höchst unbefriedigend. Es bedarf keiner aufwändigen empirischen Untersuchung, um wissen zu können, dass die Misserfolgsquote bei Wiederaufnahmeanträgen außerordentlich hoch ist. Die Auskunft ist von jedem Richter oder Staatsanwalt zu erhalten, der mit Wiederaufnahmesachen befasst ist. Sofern dieser sich vor Berufsblindheit hat bewahren können, wird er zugeben, dass keineswegs entsprechend selten rechtskräftige Fehlurteile in der strafrechtlichen Praxis vorkommen. Nur werden sie eben selten korrigiert.
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Verantwortlich für den unbefriedigenden Zustand ist einmal eine gesetzliche Konzeption, die einer Korrektur rechtskräftiger Fehlurteile sehr enge Grenzen setzt.[1] Von erheblichem Gewicht sind aber auch Gründe, die die Praxis der Rechtsanwendung betreffen. So handhabt die justizielle Praxis die Vorschriften des Wiederaufnahmerechts zumeist sehr restriktiv.[2] Ferner zeigt die richterliche Erfahrung, dass Strafverteidiger mit dem Wiederaufnahmerecht, das sich in wesentlichen Strukturelementen vom sonstigen Strafverfahrensrecht unterscheidet, oft nicht genügend vertraut sind.
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Das Buch soll zu einer Veränderung der Rechtsanwendungspraxis beitragen. Es bietet eine betont systematische Darstellung des Wiederaufnahmerechts, was das Verständnis für die Besonderheiten dieses Gebietes fördern soll. Die Abfolge der gesetzlichen Vorschriften ist nämlich eher verwirrend. Daher leisten Kommentare auch nur begrenzt Hilfestellung. Zugleich ist eine kritische Überprüfung der restriktiven justiziellen Praxis beabsichtigt. Somit wendet sich das Buch nicht allein an Strafverteidiger, sondern auch an sonstige in Praxis und Theorie mit dem Wiederaufnahmeverfahren befasste Personen.
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Soweit das Buch für Zwecke der Strafverteidigung benutzt wird, sollte Anleitungsliteratur zur Verteidigungstätigkeit im Ermittlungsverfahren ergänzend herangezogen werden. Denn die dort zu findenden praktischen Hinweise zur Informationsbeschaffung[3] sind weitgehend übertragbar auf das Wiederaufnahmeverfahren. Daher geht die vorliegende Darstellung nur gelegentlich auf diese Fragen ein. Das beruht im Übrigen auch auf der richterlichen Erfahrung, dass Wiederaufnahmeanträge selten an mangelndem Know-how hinsichtlich der Informationsbeschaffung, sehr häufig jedoch an unzureichendem Wissen darüber scheitern, welche Informationen wie darzulegen sind. Konkrete praktische Hilfen bietet das Buch insoweit durch Muster von Verteidigerschriftsätzen im Anhang sowie durch Fall- und Formulierungsbeispiele in dem praktisch besonders bedeutsamen Bereich der Wiederaufnahme zugunsten des Verurteilten auf Grund von § 359 Nr. 5 StPO.
Einleitung › B. Einführung in das Recht der Wiederaufnahme in Strafsachen
B. Einführung in das Recht der Wiederaufnahme in Strafsachen
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Die Wiederaufnahme ist ein außerordentlicher Rechtsbehelf. Ihre Funktion besteht in der Durchbrechung der Rechtskraft im Interesse materieller Einzelfallgerechtigkeit.[4]
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Die Wiederaufnahme eines durch rechtskräftiges Urteil abgeschlossenen Strafverfahrens setzt einen entsprechenden Antrag voraus, vgl. §§ 360 Abs. 1, 361 Abs. 1, 364 Satz 1, 365, 366 StPO. Als Antragsteller kommen verschiedene Verfahrensbeteiligte in Betracht, in erster Linie der Verurteilte bzw. sein Verteidiger und die Staatsanwaltschaft, §§ 365, 296, 297 StPO. In dem Wiederaufnahmeantrag müssen der gesetzliche Grund der Wiederaufnahme und die Beweismittel angegeben werden, § 366 Abs. 1 StPO. Je nach dem Ziel des Antrags kommen teilweise verschiedene gesetzliche Wiederaufnahmegründe in Frage. Wenn Wiederaufnahme zugunsten des Verurteilten erstrebt wird, gilt § 359 StPO, bei Wiederaufnahmeanträgen zuungunsten des Angeklagten § 362 StPO.[5] Die praktisch bedeutsamste Besonderheit der Wiederaufnahme zugunsten des Verurteilten gegenüber der Wiederaufnahme zuungunsten des Angeklagten besteht darin, dass sie auf alle neuen Tatsachen oder Beweismittel gestützt werden kann, wenn diese nur geeignet sind, allein oder in Verbindung mit den früher erhobenen Beweisen die Freisprechung des Verurteilten oder in Anwendung eines milderen Strafgesetzes eine geringere Bestrafung oder eine wesentlich andere Entscheidung über eine Maßregel der Besserung und Sicherung zu begründen (Wiederaufnahme propter nova, § 359 Nr. 5 StPO).
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Der Wiederaufnahmeantrag durchläuft ein mehrstufiges Verfahren. Das nach den §§ 367 Abs. 1 Satz 1 StPO, 140a GVG zuständige Wiederaufnahmegericht entscheidet zunächst über die Zulassung des Wiederaufnahmeantrags (sog. Aditionsverfahren). Der Antrag wird als unzulässig verworfen, wenn er nicht in der vorgeschriebenen Form angebracht, in ihm kein gesetzlicher Grund der Wiederaufnahme geltend gemacht oder kein geeignetes Beweismittel angeführt worden ist, § 368 Abs. 1 StPO. Nach der Zulassung des Antrags werden die angetretenen Beweise erhoben, § 369 StPO; anschließend befindet das Gericht über die Begründetheit des Antrags (sog. Probationsverfahren). Wenn die in dem Antrag aufgestellten Behauptungen durch die Beweisaufnahme genügend bestätigt worden sind, wird die Wiederaufnahme des Verfahrens und – in der Regel[6] – die Erneuerung der Hauptverhandlung angeordnet. Die neue Hauptverhandlung richtet sich wie die erste Hauptverhandlung nach den §§ 226 ff. StPO. Nach § 373 StPO gelten allerdings besondere Regeln für die Tenorierung und, was bedeutsamer ist, das Verbot der reformatio in peius.
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Die Struktur des Wiederaufnahmeverfahrens unterscheidet sich grundlegend von derjenigen des Erkenntnisverfahrens.[7] Das Erkenntnisverfahren ist inquisitorisch strukturiert, die Verfahrensherrschaft liegt beim Gericht. Dementsprechend obliegt ihm auch die Stoffsammlung. Für Darlegungslasten anderer Verfahrensbeteiligter, namentlich des Angeklagten, bleibt kein Raum. Mit dem rechtskräftigen Abschluss des Erkenntnisverfahrens geht ein Strukturwandel einher. Ein anschließendes Wiederaufnahmeverfahren ist ähnlich akkusatorisch strukturiert wie der Zivilprozess. Das Gericht hat keine verfahrensbeherrschende Position inne. Die maßgebenden verfahrensgestaltenden Befugnisse besitzt der Antragsteller. Dementsprechend verschieben sich auch die Verantwortungsbereiche hinsichtlich der Stoffsammlung. Den Antragsteller treffen umfassende Darlegungs- und Beweisführungslasten. Andererseits ist das Wiederaufnahmegericht ähnlich wie ein Zivilgericht gemäß § 139 ZPO in besonderem Maße zur Hilfeleistung gegenüber dem Antragsteller verpflichtet, so dass es ihn insbesondere erforderlichenfalls auf das Ausmaß seiner Darlegungs- und Beweisführungsobliegenheiten hinzuweisen hat.
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Der Strukturwandel erklärt sich daraus, dass der Gesetzgeber mit Eintritt der Rechtskraft die öffentlichen Rechtsschutzinteressen hinsichtlich der Sache selbst als erledigt ansieht. Er geht davon aus, dass der öffentliche Rechtsfrieden durch den rechtskräftigen Urteilsspruch in jedem Fall wiederhergestellt worden ist und dass allenfalls noch der persönliche Rechtsfrieden privater Verfahrensbeteiligter, die ihre privaten Rechtsschutzinteressen durch das Urteil nicht verwirklicht sehen, gestört sein kann. Das öffentliche Rechtsschutzinteresse ist nunmehr auf Aufrechterhaltung des Urteils gerichtet. Seine Richtigkeit wird vermutet. Dementsprechend betrachtet