Absprachen im Strafprozess. Dirk Sauer
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Zum Hintergrund sei vorab daran erinnert, dass die Urteilsabsprache sich in der Praxis entwickelt hatte, und dass der BGH spätestens seit der grundlegenden Entscheidung des 4. Strafsenats aus dem Jahr 1997[5] die Vereinbarkeit der Urteilsabsprache mit der StPO sowie den hergebrachten und teils Verfassungsrang genießenden grundlegenden Verfahrensprinzipien des deutschen Strafprozessrechts jedenfalls im Grundsatz bejaht hatte. Es hatte sich zugleich eine etwas befremdliche Diskrepanz zwischen der nach und nach immer umfangreicher werdenden Judikatur zu Einzelproblemen der Anwendung des vom BGH entwickelten normativen Rahmens auf der einen und zum Beitrag der Rechtswissenschaft, der im Wesentlichen aus ständig wiederholter Fundamentalkritik an dem Institut der Urteilsabsprache überhaupt bestand, auf der anderen Seite entwickelt.[6]
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Misslich daran war zunächst, dass die Rechtslehre hartnäckig den Umstand leugnete, dass die StPO seit jeher auch an anderen Stellen jedenfalls im Ergebnis rechtskräftige Beendigungen von Strafverfahren mit belastenden Folgen auch für den Beschuldigten vorsieht, die von dessen Zustimmung abhängen und mehr oder weniger auch durch diese legitimiert werden. Es konnte also schon immer davon gesprochen werden, dass neben der inquisitorischen Wahrheitsermittlung, die zahlreiche Kritiker als einzige legitime Form des deutschen Strafprozesses akzeptieren wollten, auch Alternativen der Verfahrenserledigung existierten, die mit Einvernehmlichkeit zwischen den Verfahrensbeteiligten zu tun hatten. Auf diesen Aspekt wurde schon oben und wird sodann später ausführlich im zweiten Teil des Werks eingegangen. Diese Überlegung war und ist ausschlaggebend für den hier gewählten Weg, die Urteilsabsprache in den Kontext dieser, von uns als konsensual bezeichnete Erledigungsformen, zu setzen.
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Zum anderen krankte die Literatur vor Einführung des § 257c sowie der diesen begleitenden Vorschriften daran, dass sie aufgrund ihres extrem kritischen Ansatzes Schwierigkeiten hatte, Lösungen für Einzelprobleme oder gar eine Lehre zu entwickeln, die man mit Fug und Recht als Dogmatik der Urteilsabsprache hätte bezeichnen können. Wer auf dem Standpunkt beharrte, der BGH befinde sich insgesamt auf einem Irrweg und müsse einfach jedes abgesprochene Urteil als prozessordnungswidrig ansehen und am besten aufheben, konnte sich schlecht dazu äußern, welche Urteilsabsprache denn nun lege artis vorgenommen war und welche nicht. Nebeneffekt war, dass jedenfalls die Lehre über weite Strecken diejenigen Richter, Staatsanwälte und Verteidiger alleine ließ, die sich um rechtmäßiges Vorgehen bemühten.
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Man konnte die Haltung der Literatur trotz dieser Schwächen früher noch im Ausgangspunkt akzeptieren. Das lag daran, dass der Gesetzgeber noch nicht gesprochen hatte, und dass es der Rechtswissenschaft selbstverständlich nicht verwehrt ist, eine bestimmte, in der Rechtsprechung entwickelte oder von ihr mit Konturen versehene Rechtsfigur grundsätzlich abzulehnen. Das Wort des BGH ist nicht Gesetz. Diese Ausgangslage hat sich nun aber erheblich gewandelt. Der Umstand, dass eine gesetzliche Regelung existiert – die nach der Entscheidung des BVerfG vom 19.3.2013 auch nicht als verfassungswidrig anzusehen ist – zwingt nun dazu, sich mit der Frage ihrer Anwendbarkeit zu beschäftigen.
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Letzteres gilt jedenfalls dann, wenn man, wie wir es für richtig halten, die Aufgabe der Rechtsdogmatik darin sieht „im Vagheitsbereich des positiven Rechts vernünftige Entscheidungsvorschläge zu erarbeiten“[7].
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Ganz unabhängig davon, ob man die gesetzliche Regelung für gelungen hält oder nicht, ist derjenige Rechtswissenschaftler, der sich als Rechtsdogmatiker versteht und seine Arbeit nicht ausschließlich auf die Rechtsdogmatik de lege ferenda konzentrieren will,[8] also jetzt gefordert, Anwendungsprobleme des Gesetzes aufzuspüren und sie Lösungen zuzuführen, die möglichst auf plausiblen und mit dem Gesetz vereinbaren Prämissen beruhen und zueinander nicht im Widerspruch stehen.
a) Vermischung von Rechtspolitik und Rechtsdogmatik
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Aus diesem Blickwinkel befremdet die wissenschaftliche Diskussion, wie sie seit 2009 geführt wird, durchaus und spätestens nach dem Urteil des BVerfG vom 19.3.2013 vielleicht noch mehr, als dies früher, vor Inkrafttreten der Reform der Fall war. Völlig zu Recht hat Peter Rieß im Jahre 2009 ganz im Sinne des soeben Dargelegten gefordert, ganz unabhängig vom persönlichen Standpunkt müsse nun eben das Gesetz respektiert und angewendet und es müsse eine Auseinandersetzung mit seinem legitimen Anwendungsbereich, also eine Dogmatik der Urteilsabsprache, entwickelt werden. Stattdessen äußern namhafte Lehrer des Strafprozessrechts in einschlägigen Veröffentlichungen, das Gesetz sei schlecht, nicht ernst zu nehmen, unanwendbar oder ähnliches.[9] Das wird beispielsweise damit begründet, dass apodiktisch behauptet wird, die Aufklärung der Wahrheit sei mit der Urteilsabsprache ganz grundsätzlich nicht zu vereinbaren.[10] Vielfach läuft die Kritik darauf hinaus, bereits der Gedanke, dass die Zustimmung aller Prozessbeteiligten bei der Verfahrensbeendigung im Strafprozess eine Rolle spielen könne, sei mit dem hohen Anspruch der Wahrheitsfindung unvereinbar, weswegen der Gesetzgeber allenfalls die Möglichkeit gehabt hätte, eine Art zweite Strafprozessordnung zu schaffen, die im scharfen Gegensatz zu dem inquisitorischen Strafprozess eine Art konsensuales Strafprozessrecht vorsieht und zugleich regelt, in welchen Fällen dieses zur Anwendung kommen soll.[11]
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Wir halten solche Kritik für überzogen und unplausibel. Sie stellt aus unserer Sicht eine Art Dogmatikverweigerung dar, mit der die Rechtswissenschaft ihre Aufgabe schlicht verfehlt. Im vorliegenden Text soll ein solches, destruktives Vorgehen vermieden werden. Worum es gehen soll, ist die Darstellung des Gesetzes, wie es im Jahre 2009 in Kraft getreten und, wie es von Verfassungs wegen seit dem 19.3.2013 zu verstehen ist, und auf dieser Basis konforme und mithin rechtlich vertretbare Vorschläge für die Lösung von Anwendungsproblemen zu unterbreiten. Es ist damit keineswegs gesagt, dass für die Urteilsabsprache ein sonderlich breiter Anwendungsbereich besteht. Es ist durchaus denkbar, dass die dogmatische Arbeit zu dem Resultat kommt, in einer Vielzahl von Fällen seien in der Praxis durchgeführte Urteilsabsprachen in Wahrheit