Absprachen im Strafprozess. Dirk Sauer
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Der von Eberhard Schmidt seinerzeit verwendete Begriff „Halbheit“ jedenfalls würde heute einen veritablen Euphemismus darstellen.
4. Vom Strafprozess zum Meta-Verfahren
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Die Neigung der Beteiligten zu konsensualen Verfahrensweisen wird schließlich, zumindest in Teilbereichen wie etwa dann im Wirtschaftsstrafrecht, im weitesten Sinne durch die massiv gestiegene Komplexität begünstigt, die Wirtschaftsstrafverfahren ab einer gewissen Größenordnung in der heutigen Informations- und Mediengesellschaft angenommen haben und die sie für die handelnden Personen nur noch schwer beherrschbar macht.
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Was hiermit gemeint ist, sei an einem Beispiel verdeutlicht: Wenn der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Bank von einer deutschen Staatsanwaltschaft bei einem deutschen Landgericht wegen Untreue angeklagt wird und sich in zwei langen Hauptverhandlungen verantworten muss, dann wird nicht mehr ausschließlich die Frage geklärt, ob unter vielen weißen ein schwarzes Schaf ausgemacht worden ist, ob also der Angeklagte schuldhaft einen Straftatbestand erfüllt und sich damit gegen den konsentierten Grundbestand der zentralen Werte unserer Gesellschaft gestellt hat, kurz: zum Verbrecher im materiellen Sinne geworden ist. Vielmehr werden Sachverhalte verhandelt, die bereits in tatsächlicher, erst recht aber in normativer Hinsicht nicht einmal mehr vom Fachpublikum, noch weniger von den beteiligten Journalisten und erst recht nicht von der Öffentlichkeit in ihrer Gesamtheit überhaupt noch vollständig überblickt und verstanden werden können. Zumindest in den Augen der Öffentlichkeit steht hier im Grunde auch nicht lediglich das Verhalten einzelner Personen auf dem Prüfstand. Vielmehr geht es um die Übernahme eines weltweiten Konzerns durch einen anderen, die Frage, ob und inwieweit Deutschland als Wirtschaftsstandort durch Adaption oder Abweichung von internationalen Gepflogenheiten im Aktien- oder Bilanzrecht oder auch nur in der Managementkultur geschwächt oder gestärkt wird. Es wird diskutiert, ob und inwieweit die Anklageerhebung, aber auch später die Zustimmung zur Einstellung des Verfahrens politisch gesteuert oder beeinflusst war oder sein sollte; Politiker geraten in den Sog größerer Wirtschaftsstrafverfahren, es kommt zu Rücktritten, es werden gesetzgeberische Aktivitäten gefordert und häufig als Reaktion auf einzelne Verfahren auch mit heißer Nadel umgesetzt, EU-Kommission oder US-Börsenaufsicht schreiten ein und vieles mehr.
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Kurz: Wo im klassischen Bild des Strafprozessrechts der Tatvorwurf in der Regel[33] klar umrissen, die Tatbestände für jeden einigermaßen gebildeten Bürger verständlich, die Öffentlichkeitswirkung des Verfahrens relativ beschränkt und seine Folgen im Wesentlichen auf den konkreten Fall eingrenzbar gewesen sein dürften, ist das Strafverfahren im Allgemeinen, die Hauptverhandlung aber im Besonderen, im Wirtschaftstrafrecht heute vielfach zu einem medial aufbereiteten, gesellschaftlichen Großereignis mit unüberschaubaren Ursachen und Wirkungen mutiert.[34] Auch aus diesem Blickwinkel ist es nahe liegend, dass die Beteiligten nach Auswegen suchen, und ein solcher besteht eben darin, das Verfahren entweder von vornherein unter Ausschluss der Öffentlichkeit zu führen oder es unter Beschränkung auf seinen fassbaren Kern, der zumindest zwischen den Verfahrensbeteiligten auch einer auf sachliche Aspekte konzentrierten Kommunikation zugänglich ist, in einer kurzen, abgesprochenen Hauptverhandlung zu erledigen.
5. Zwischenfazit
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Die Aufzählung möglicher Ursachen ist sicher nicht vollständig. Es sollte aber schon jetzt deutlich geworden sein, dass die in der veröffentlichten Meinung zuweilen recht schlicht ausfallenden Ursachenbeschreibungen der Komplexität des Phänomens nicht angemessen sind. Insbesondere die verbreitete These, die Praktiker benähmen sich eben aus Unachtsamkeit, Bequemlichkeit oder Gleichgültigkeit daneben und müssten und könnten wie ungezogene Kinder durch ein Machtwort des Gesetzgebers oder der Rechtsprechung erzogen und buchstäblich auf den Weg des Rechts zurückgeführt werden, greift angesichts der Hintergründe der Entwicklung – ganz gleich, ob man diese begrüßt oder ablehnt – bei weitem zu kurz.
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Weitaus näher liegt die Annahme, dass die handelnden Strafjuristen in aller Regel schlicht bemüht sind, sich einerseits an die in vielerlei Hinsicht geänderten Verhältnisse anzupassen und andererseits nach Möglichkeit den Boden des Rechts nicht zu verlassen. Dass die auf staatlicher Seite handelnden Juristen immer mehr zur Verfahrensverkürzung per Verständigung neigen, verwundert im Übrigen auch deswegen nicht, weil nicht nur seit Generationen von Seiten des Gesetzgebers dem Postulat der „Prozessökonomie“ immer größere Bedeutung zugemessen worden ist, sondern auch analog hierzu die Geschwindigkeit der Erledigung von Rechtssachen für die Justizverwaltungen zu dem oder zumindest einem wesentlichen Kriterium bei der Beurteilung ihrer Beamten und damit zum bedeutenden Aufstiegskriterium geworden ist. Verteidiger wiederum finden oft nur schwer Alternativen zur Absprache, wenn es darum geht, Mandanten zufrieden zu stellen, die nicht um Freisprüche kämpfen, sondern kurze, kalkulierbare und aus ihrer Sicht tragbare Verfahrensverläufe und -ergebnisse erwarten. Wirtschaftlich wäre die Durchführung einer langwierigen und aufwändigen Hauptverhandlung dagegen für den Strafverteidiger oft lukrativer.
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Wer sich also mit der gestiegenen Bedeutung konsensualer Verfahrensweisen im Strafprozess auseinandersetzt, kommt kaum daran vorbei, zunächst einmal zur Kenntnis zu nehmen, dass die Praxis des Strafprozesses sich nicht im luftleeren Raum entwickelt hat, sondern im Wesentlichen durch politische Vorgaben bestimmt ist, die ihrerseits gesellschaftlichen Entwicklungen, beispielsweise der in allen Lebensbereichen moderner Industriegesellschaften gestiegenen Bedeutung ökonomischer Betrachtungsweisen, aber eben auch gewandelten Vorstellungen von Zweck und Funktion des Strafrechts folgen. Das beinhaltet zwar für sich genommen natürlich noch keine Bewertung, und die Existenz der §§ 153 ff., 257c, 407 ff. stellt selbstverständlich keine Legalisierung oder auch nur Legitimation jeder Verständigung dar.[35] Das Bewusstsein von den oben skizzierten Zusammenhängen sollte aber immerhin dazu beitragen, das Phänomen der konsensualen Vorgehensweisen im Allgemeinen und der Urteilsabsprache im Besonderen nicht von vornherein aus einem verengten, vorurteilsbehafteten Blickwinkel zu betrachten und zu bewerten.