Absprachen im Strafprozess. Dirk Sauer
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Nach der hier vertretenen Auffassung ist der seit langen Jahren andauernde Streit über die grundsätzliche Zulässigkeit von „Absprachen im Strafprozess“, verstanden als rechtsdogmatische Auseinandersetzung, zwar mittlerweile gegenstandlos (wenn er es nicht ohnehin schon immer war). Das, was von Richtern, Staatsanwälten und Verteidigern, die sich an das geltende Recht halten, praktiziert wird, erfordert gleichwohl hohen Sachverstand und kann im Einzelfall Aufgaben von außerordentlicher Komplexität mit sich bringen. In der praktischen Bedeutung mutmaßlich gleichbedeutend neben der Urteilsabsprache stehen dabei im Übrigen Verfahrenseinstellungen nach §§ 153 ff. und Strafbefehle nach §§ 407 ff.[50]
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Was in der Literatur aber nach wie vor heftig kritisiert wird, ist zumeist auch kein rechtliches, sondern ein rechtskulturelles Phänomen, zugespitzt: Die Verrohung der Sitten. Diese hat gesellschaftliche wie politische Ursachen und ist daher nicht gut im Wege von Veröffentlichungen in strafrechtlichen Fachpublikationen, sondern durch gesellschaftliches und politisches Engagement am effektivsten zu bekämpfen. Dass kein Praktiker sich an nach geltendem Recht unzulässigen Verfahrensweisen beteiligen darf, auch nicht der Verteidiger und auch dann nicht, wenn das Bestehen auf der Befolgung aller Normen des Strafprozessrechts in der Ausprägung, die sie in der Rechtsprechung des BGH erfahren haben, in der konkreten Verfahrenssituation Mut und Beharrungsvermögen erfordert, liegt allerdings auch auf der Hand. Anlass, Gespräche mit anderen Verfahrensbeteiligten bis hin zu einvernehmlichen Verfahrensbeendigungen generell nur mit schlechtem Gewissen zu führen, besteht aber nicht.
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Die Wirklichkeit der Absprachen im Strafprozess ist gleichwohl alles andere als erfreulich. Jeder Rechtsanwalt, der eine Zeit lang als Verteidiger tätig war, kennt glaubhafte Berichte von in der Hauptverhandlung genuschelten, völlig inhaltsleeren Geständnissen, mandatsübergreifenden „Deals“, Versuchen der Gerichte, Geständnisse aus den Mandanten geradezu herauszupressen, Anläufen, schon in der Instanz den Zeitpunkt der Entlassung aus der JVA auszuhandeln und nicht zuletzt der offenbar nicht auszurottenden Unsitte, mehr oder weniger stillschweigend und augenzwinkernd von der Verteidigung und auch von der Staatsanwaltschaft doch wieder eine Selbstverpflichtung zum Rechtsmittelverzicht zu verlangen.[51] Dies alles ist unzulässig, und wer sich auf so etwas einlässt, zieht sich mit Recht geballte Kritik zu. Die Verteidiger haben es durch die Art und Weise, wie sie sich verhalten, ob also insbesondere der noch im dritten Teil näher darzulegende rechtliche Rahmen für Verständigungen im Strafprozess eingehalten wird oder nicht, bis zum gewissen Grade in der Hand, das heute aus der Außenperspektive allem Anschein nach verheerende Image der Absprachenpraxis zu verbessern. Nicht obwohl, sondern gerade weil die revisionsgerichtliche Kontrolle auf pathologische Fälle beschränkt ist und zumeist der Satz gilt: „Wo kein Kläger, da kein Richter“, hängt die Funktionsfähigkeit des Rechtssystems und auch das Niveau der Rechtskultur hier in besonderer Weise davon ab, dass die einzelnen handelnden Personen ein hinreichendes Maß an Rechtstreue an den Tag legen.[52]
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Dass die Verteidigung sich an Recht und Gesetz hält, liegt aber im Grundsatz und in den meisten praktischen Fällen auch im wohlverstandenen Interesse der Mandanten. Der BGH hat in der Vergangenheit vielfach deutlich gemacht, dass speziell der Beschuldigte aus rechtswidrigen Absprachen, wie häufig formuliert wird, „nichts für sich herleiten kann“. Es zieht sich wie eine rote Linie durch die Rechtsprechung des BGH, dass das Gericht sich weigert, in der Revision zu Gunsten des Mandanten einzugreifen und den Not leidenden „Deal“ zu „reparieren“.[53]
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Der Ansatz ist bis zum gewissen Grade verallgemeinerungsfähig: Verteidiger, die es, scheinbar zu Gunsten des Mandanten, mit dem Recht nicht so genau nehmen, können nicht mehr glaubwürdig eingreifen, wenn beispielsweise die Staatsanwaltschaft, sobald sie „am längeren Hebel sitzt“, ihrerseits versucht, den Beschuldigten und die Verteidigung mit unlauteren Mitteln unter Druck zu setzen. Arbeiten nicht alle Strafjuristen gemeinsam daran, ihre Verfahrensweisen strikt an dem jeweils geltenden Recht auszurichten, so breiten sich unweigerlich Wild-West-Methoden aus, die heute schon häufig beklagt werden und die sich dann im jeweiligen Einzelfall im Zweifel zum Nachteil desjenigen auswirken, der sich gerade in der schwächeren Position befindet. Das muss zwar nicht immer der Beschuldigte sein. Vielmehr hat die Verteidigung vielfach im Rahmen des ihr gesetzlich eröffneten Spielraums enorme Möglichkeiten, eine Verurteilung des Mandanten zu verhindern oder, wenn dies nicht gelingen kann, so doch in relativ erträglichem Rahmen zu halten. Darauf kommt es in diesem Zusammenhang aber nicht entscheidend an, denn eine Entwicklung des Strafprozesses zu einem reinen Machtspiel kann niemand wollen. Sie liefe letztlich nicht nur darauf hinaus, dass der Anspruch auf gleiche Behandlung von wesentlich Gleichem nicht mehr aufrechterhalten werden könnte. Auch die Berechenbarkeit der Ergebnisse, die für die Mandanten erhebliche Bedeutung besitzt und sie häufig erst entscheidend zur Suche nach Konsens motiviert, könnte eine solche, letztlich von Zufälligkeiten und völliger Beliebigkeit geprägte Justizpraxis ersichtlich nicht mehr gewährleisten.[54]
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Und selbst dann, wenn man all diese übergeordneten Überlegungen beiseiteschieben und die Frage nach dem richtigen Verhalten des Verteidigers ausschließlich unter dem Gesichtspunkt der unmittelbaren Kosten/Nutzen-Relation in der jeweiligen, konkreten, singulären Verfahrenslage betrachten wollte, wäre nicht ausgemacht, dass rechtliche Indifferenz eine vertretbare Haltung darstellte. Manche Praktiker meinen zwar, es gelinge ihnen regelmäßig, unter Missachtung der rechtlichen Vorgaben die besten Ergebnisse für ihre Mandanten „herauszuhandeln“. Näherer Prüfung halten solche Behauptungen indes zumeist nicht stand. Sie sind auch wenig plausibel: Für die Beschuldigten würde sich eine rechtsvergessene Praxis des „Dealens“ dauerhaft und grundsätzlich nur lohnen, wenn die Mehrheit der Richter und Staatsanwälte entweder korrupt[55] oder aber den Verteidigern intellektuell weit unterlegen wäre. Für beides gibt es, zurückhaltend formuliert, keine ernsthaften Anhaltspunkte. Beugt sich aber umgekehrt der Verteidiger zu Lasten seines Mandanten dem Druck des Gerichts oder der Staatsanwaltschaft und lässt sich auf eine unrechtmäßige Absprache ein, verrät er nicht nur das Recht, sondern seinen Mandanten gleich mit.
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Ein Spannungsverhältnis zwischen der strikten Bindung an Recht und Gesetz auf der einen und der Pflicht, die Mandanteninteressen zu wahren, auf der anderen Seite besteht also im Allgemeinen nicht. Im konkreten Fall kann es allenfalls dann anders aussehen, wenn der Verteidigung von Seiten der Strafverfolgungsbehörden „Angebote“ gemacht werden, die für den Mandanten in jeder Hinsicht günstig, aber rechtlich nicht vertretbar sind. Auch hier ist aber das richtige Verhalten meist unschwer zu bestimmen: Entweder droht aufgrund der Rechtswidrigkeit des „Deals“ die Revision oder der Verteidiger begibt sich selbst in die Gefahr standes- oder strafrechtlicher Verfolgung. Die verbleibenden Fälle, in denen der Verteidiger tatsächlich entscheiden muss, ob das mit derartigen Gefahren verbundene „Geschenk“ einer abwegig milden Rechtsfolge angenommen werden soll oder nicht, dürften allenfalls vereinzelt auftreten. Sie stellen die Verteidigung dann aber auch im Grunde nicht vor Rechtsprobleme: Der schlichte Rat an den Mandanten, beispielsweise einer ihn eindeutig unangemessen begünstigenden Verfahrenseinstellung nach § 153a – innerhalb des Anwendungsbereichs der Vorschrift – zuzustimmen, stellt für sich genommen kein rechtswidriges Verhalten dar.