Absprachen im Strafprozess. Dirk Sauer
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1. Kein grundsätzlicher Gegensatz zwischen Prozessrecht und Mandanteninteresse
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Der Grundsatzstreit über die Zulässigkeit insbesondere der Urteilsabsprache ist jedenfalls seit der Gesetzesänderung als endgültig erledigt anzusehen. Der Gesetzgeber hat entschieden. Dass von Verfassungs wegen keine durchgreifenden Bedenken bestehen, hat das BVerfG jüngst (erneut) entschieden.[36] Folglich kann in der Praxis der Strafjustiz, bis auf weiteres alleine auf der Ebene des geltenden Strafprozessrechts – in der vom BVerfG vorgegebenen Auslegung – diskutiert werden.[37] Es stellen sich also primär Fragen der Rechtsauslegung und der Gestaltung bestehender Handlungsspielräume. Dies gilt für die anderen Möglichkeiten konsensualer Verfahrensbeendigung[38] bereits seit langer Zeit.
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Im Vergleich zu Staatsanwälten und Strafrichtern befinden sich dabei die Verteidiger in der weitaus schwierigsten Lage. Für jene stellen die Möglichkeiten einer konsensualer Verfahrensbeendigung und stellt insbesondere die Urteilsabsprache schlicht eine Erweiterung ihrer Handlungsmöglichkeiten dar. Wenn sie meinen, ein Fall eigne sich dafür und es sei, insbesondere aufgrund des von Seiten der Politik ausgeübten Erledigungsdrucks, angezeigt, das Verfahren zu verkürzen, können sie die Verfahrenserledigung durch ein abgesprochenes Urteil (oder durch einen Strafbefehl bzw. eine Einstellung nach Erfüllung von Auflagen) anstreben, solange sie nicht gegen §§ 136a, 244 Abs. 2, 257c, 261 oder andere Vorschriften des geltenden Rechts verstoßen und sich zudem an die vom BGH entwickelten (und vom BVerfG gebilligten) Regeln halten, ohne dabei in Konflikt mit dem Gesetz, wie es BGH und BVerfG verstehen, zu kommen. Justizvertreter können dies, etwa weil sie Anhänger der Grundsatzkritik sind, aber auch unterlassen und, wie Schünemann formuliert, den Strafprozess von 1877 durchführen.[39] Es ist ihnen auch heute noch[40] völlig unbenommen, Verständigungsgespräche schlicht von sich zu weisen und bis zum Urteil ohne jede Einschränkungen den, wie die ehemalige Generalbundesanwältin Monika Harms formuliert hat, „streng formellen, der Rechtssicherheit dienenden Rechtssätzen des Strafprozesses“[41] zu folgen.
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Für den Strafverteidiger sieht die Sache anders aus. Er ist den Interessen des Mandanten verpflichtet und mithin gehalten, diesen zumindest umfassend darüber aufzuklären, welche konkreten Verteidigungshandlungen nach dem geltenden Recht möglich und welche Chancen und Risiken damit jeweils verbunden sind. Nur so hat der Mandant die Möglichkeit, eine freie Entscheidung über die von ihm bevorzugte Verteidigungsstrategie gemeinsam mit dem Verteidiger zu treffen. Hinzu kommt, dass der Verteidiger selbst dann, wenn er von sich aus keinerlei Initiative in Richtung auf ein konsensuales Verfahren entwickeln will oder kann, nicht selten mit entsprechenden Vorschlägen, vulgo: Angeboten der Staatsanwaltschaften oder Gerichte, konfrontiert ist. Spätestens in diesem Moment ist er gezwungen, sich sowohl mit der Rechtmäßigkeit der ihm angesonnenen Verhaltensweisen wie auch damit zu befassen, ob die Führung entsprechender Gespräche mit den anderen Verfahrensbeteiligten für seinen Mandanten voraussichtlich eher Vorteile oder eher Nachteile bringen wird.[42]
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Aus der Bindung des Verteidigers an Recht und Gesetz folgt in dieser Situation zunächst einmal nur, dass dann, wenn eine Urteilsabsprache durchgeführt, ein Strafbefehl vorbesprochen oder eine Lösung etwa über eine Einstellung unter Auflagen gesucht wird, jedenfalls der Rahmen, der nach dem Gesetz besteht, nicht verlassen werden darf. Wählen die Verfahrensbeteiligten eine konsensuale Vorgehensweise, die mit dem geltenden Recht nicht vereinbar ist, so verhalten sich alle Beteiligten, auch der Verteidiger, pflichtwidrig. Sogar die Bejahung strafbaren Verhaltens liegt insbesondere in Fällen unzulässiger Inhalte der Vereinbarungen näher als man auf den ersten Blick meinen könnte. Wer beispielsweise mandatsübergreifend „dealt“, schon in der Instanz Vollstreckungserleichterungen oder Strafaussetzungen zur Bewährung nach § 57 StGB aushandelt oder zumindest anstrebt, wer wegen des Verdachts auf Begehung von Verbrechen geführte Verfahren nach § 153a einstellt, ohne dass sich der Verbrechensverdacht zuvor als unbegründet erwiesen hat, oder wer sonst zu weit jenseits des Vertretbaren liegenden Ergebnissen kommt, kann sich zumindest gefährlich in die Nähe von Straftatbeständen wie Rechtsbeugung, § 339 StGB, Strafvereitelung, §§ 258, 258a StGB (ggf. i. V. m. §§ 26, 27 StGB) und anderem begeben.[43] Zudem besteht jedenfalls in Fällen des Scheiterns rechtswidriger „Deals“ durchweg das erhebliche Risiko, dass die Revisionsinstanz etwa einer Urteilsabsprache die Anerkennung versagt und der Mandant durch den gesamten Vorgang im Ergebnis massive Nachteile erleidet. Auf letzteres wird später noch ausführlich zurückzukommen sein.[44]
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Eine strikt pragmatische[45] Einstellung könnte für den Strafverteidiger folglich darauf hinauslaufen, in jedem Verfahren und in jeder denkbaren Hinsicht die bestehenden rechtlichen und tatsächlichen Möglichkeiten, soweit sie im Interesse des Mandanten stehen, voll auszuschöpfen.[46] Dies entspräche der These, dass sich den handelnden Personen für die Urteilsabsprache – ebenso wie für strafprozessuale Verständigungen anderer Art und in anderen Verfahrensstadien – vor dem Hintergrund von mehr als zwei Jahrzehnten die Zulässigkeit der Urteilsabsprache bejahenden höchstrichterlicher Rechtsprechung und der nunmehr bestehenden gesetzlichen Anerkennung im Grunde nicht mehr die Frage nach dem Ob, sondern nur noch nach dem Wann und dem Wie stellt.[47]
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Mit einem gewissen Recht kann man für diese Haltung darauf verweisen, dass Strafverteidiger bis zu einem bestimmten Grade zum Pragmatismus verpflichtet sind. Es ist schon im Hinblick auf die geschuldete Einschätzung und Optimierung der Prozessaussichten wie auch die umfassende und zutreffende Unterrichtung des Mandanten über seine jeweilige Situation schlicht ein Gebot praktischer Vernunft, die vom Gesetzgeber anerkannte Urteilsabsprache nicht von vornherein zu ignorieren. Dabei versteht sich zwar von selbst, dass der Verteidiger niemals Dinge tun muss, die er mit seinen rechtlichen, moralischen, ethischen, oder welchen Überzeugungen auch immer nicht vereinbaren kann. Dies berechtigt ihn aber nicht, seinem Mandanten zu schaden. Vielmehr wird er notfalls gezwungen sein, das Mandatsverhältnis zu beenden, wenn er eine von ihm als rechtmäßig und für den Mandanten vorteilhaft erkannte konsensuale Verfahrensweise nicht durchführen möchte.[48] Gerade deswegen besteht eine nahe liegende und von vielen Strafverteidigern heute auch tatsächlich ausdrücklich oder konkludent gezogene Schlussfolgerung darin, das eigene Handeln schlicht am Gesetz und den Grundsätzen der Rechtsprechung auszurichten.
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Verteidiger, die das nicht befriedigt, die insbesondere nicht lediglich „Checklisten“[49] möglicher „Verhandlungsgegenstände“ abarbeiten wollen, sondern die auch in verbleibenden Grenz- und Problemfällen auf die Frage: „Was soll ich tun?“ eine Antwort geben wollen, deren rechtliche Begründung zumindest ihnen selbst als vertretbar erscheint, profitieren aber nach wie vor davon, wenn sie über eine eigene Position zu konsensualen Vorgehensweisen im Allgemeinen und den Urteilsabsprachen im Besonderen verfügen und diese im Kontext der bereits skizzierten mutmaßlichen Ursachen sehen. In der Tat ist zwar evident, dass der Verteidiger nicht einfach seine persönlichen Überzeugungen über die Interessen des Mandanten stellen und auch da zum alleinigen Maßstab für die rechtliche Beurteilung erheben darf, wo sie etwa der höchstrichterlichen Rechtsprechung eindeutig entgegenstehen. Das heißt aber nicht, dass er als selbstständig agierendes Organ der Rechtspflege nicht auch gefordert ist, die Grundsatzkritik an Urteilsabsprachen zumindest zur Kenntnis zu nehmen und sich Rechenschaft über sein prozessuales Verhalten abzulegen. So sind nicht sämtliche Rechtsprobleme, die im Zusammenhang mit der Urteilsabsprache auftreten können, bereits durch die gesetzliche Regelung und die Rechtsprechung erschöpfend geklärt. Zuweilen steht der Verteidiger deswegen vor der Frage, ob und