Handbuch des Strafrechts. Bernd Heinrich

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Handbuch des Strafrechts - Bernd  Heinrich

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vorliegend also unter dem Blickwinkel der die Rechtsgüter Leben bzw. Gesundheit/Körperintegrität des Patienten schützenden Generalklausel der Sorgfaltswidrigkeit in den §§ 222, 229 StGB. Auf diese Weise bleibt der auch verfassungsrechtlich gebotene Vorrang der staatlich gesetzten Rechtsordnung vor privater Rechtsetzung gewahrt. Die medizinisch herausgebildeten Standards wirken mithin informativ und nicht normativ.[82] Eine unbesehene Inbezugnahme von außergesetzlichen Regelungssystemen würde hingegen letztlich eine faktische Delegation von Rechtsetzungsmacht[83] an hierfür demokratisch nicht Legitimierte (hier also bspw. an die Bundesärztekammer oder an medizinische Fachgesellschaften) bedeuten. Eine entsprechende Delegation wäre nicht mit den verfassungsrechtlichen Schutzpflichten des Staates für grundrechtlich geschützte Güter seiner Bürger zu vereinbaren.[84] Die bei der Einpassung von Problemlösungen, die im gesellschaftlichen Bereich staatsfern entwickelt wurden, in die für alle verbindliche Rechtsordnung (hier also: bei der Rezeption ärztlicherseits gebildeter Richt- bzw. Leitlinien) zu beachtenden Kautelen haben folgendem Umstand Rechnung zu tragen: Bei dieser Verfahrensweise handelt es sich keineswegs um eine begrüßenswerte Selbstbeschränkung des Gesetzgebers, der bei seinem Zurücktreten hinter gesellschaftliche Selbstregulation der Nachrangigkeit staatlicher Problemlösung (Subsidiarität) vorbildlich Rechnung trüge. Ließe man nämlich die medizinische Profession allein über das erlaubte Maß der für den Patienten zulässig zu setzenden Risiken entscheiden, so läge eine mit der Schutzpflicht des Staates für grundrechtlich geschützte Güter des Einzelnen nicht mehr vereinbare Kompetenzübertragung an Private (Neokorporatismus) vor.[85] Es kann nicht Angelegenheit einer Profession sein, selbst die Voraussetzungen festzulegen, unter denen ihre Mitglieder in Rechtsgüter Dritter eingreifen dürfen. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus der namentlich den ärztlichen Standesorganisationen staatlicherseits verliehenen Autonomie. Diese beschränkt sich auf die Regelung eigener Angelegenheiten. Diese berufsständische Regelungshoheit endet aber dann, wenn hierdurch grundrechtliche Positionen insbesondere bei Dritten betroffen sind.[86] Eine unbesehene Gleichsetzung von richtlinien- bzw. leitlinienkonformem Verhalten mit fehlender strafrechtlicher Sorgfaltswidrigkeit verbietet sich im Übrigen bereits aufgrund der unterschiedlichen Ordnungsfunktionen einer binnenfunktional wirkenden ärztlichen „Normsetzung“ einerseits, der Allgemeingültigkeit staatlichen Rechts andererseits.[87]

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      Da auch das zivil- und strafrechtliche Haftungsrecht auf den medizinischen Standardbegriff rekurriert,[88] ist letztlich jede rechtliche Entscheidung zunächst von der – durch die ärztliche Profession selbst definierten[89] – medizinisch-normativen Aussage abhängig, dass eine Behandlung dem Standard entspreche. Folglich stellt letztlich auch die rechtliche Bewertung der Ordnungsgemäßheit einer Behandlung eine Mischung von medizinischer Qualitätskontrolle und deren Rezeption in den rechtlichen Rahmen des zivil- und strafrechtlichen Haftungsrechts dar.[90] Angesichts des Rekurrierens des Haftungsrechts auf den medizinischen Standard steht letztlich jede rechtliche Entscheidung in Abhängigkeit zu einer normativ geprägten medizinischen Aussage,[91] die Behandlung entspreche dem Standard.[92] Dies ändert aber nichts daran, dass der in diesen medizinischerseits gesetzten „Sondernormen“ enthaltene Pflichtenkanon mit dem strafrechtlich gebotenen Pflichtenstandard zwar korrelieren kann; er vermag ihn aber nicht allein zu determinieren.[93] Bei diesem interdisziplinären Entscheidungsprozess über die Bildung strafbelegter Handlungsvorgaben hat das Recht die Letztentscheidungsbefugnis![94]

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      Hiermit soll nicht die Rationalisierungsfunktion[95] von Leitlinien im Haftungsprozess bestritten werden: In ihnen kommt nicht nur eine individuell-ärztliche, sondern eine institutionell-ärztliche Bewertung zum Ausdruck.[96] Dies ändert aber nichts daran, dass für die (straf)rechtliche Bewertung die Verfehlung des in casu gebotenen Standards maßgeblich ist: Der Schritt vom allgemeinen Standard zum individuellen Fall, also die Standardanwendung im Einzelfall, bedarf einer individuell-sachverständig unterstützten Bewertung,[97] weil namentlich Leitlinien ihrerseits begründete Abweichungen erlauben oder sogar gebieten. Diese Entscheidung hat der regelmäßig sachverständig beratene Rechtsanwender zu treffen, dem es ermöglicht wird, anhand von Richt- und Leitlinien eine gewisse Plausibilitätskontrolle der Aussagen des Sachverständigen vorzunehmen. Die Abweichung von einer den Standard korrekt abbildenden Richt- oder Leitlinie stellt aber nie automatisch einen Behandlungsfehler dar,[98] da die medizinische Plausibilität der Gründe für die Abweichung im Einzelfall über die Korrektheit oder Fehlerhaftigkeit der Behandlung entscheidet. Der Standard trifft eine Aussage „über die Behandlung von Kollektiven, nicht von Individuen“.[99] Liegt konkret eine unbegründete Abweichung von einer Richt- oder Leitlinie vor, so vermag dies dann nur im Zivilrecht eine Vermutung zugunsten des Patienten hinsichtlich der Kausalität des Behandlungsfehlers für die Rechtsverletzung auszulösen, sofern es sich um einen groben Behandlungsfehler[100] handelt.[101] Im Strafrecht gilt für die zur Tatbestandsverwirklichung erforderliche Kausalität und Zurechnung zwischen dem Behandlungsfehler, der die Sorgfaltswidrigkeit begründet, und der Patientenbeeinträchtigung hingegen der in-dubio-Grundsatz.[102] Ohnehin ist der Einwand durchaus ernstzunehmen, dass eine (zunehmende) Vielzahl derartiger, vom Arzt in sein Kalkül einzubeziehender Vorgaben seine Eigenverantwortung schwächt und damit letztlich dem Wohl des Patienten zuwiderzulaufen droht.[103]

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      Gegen eine starre Gleichsetzung von Verstößen gegen die von der medizinischen Profession[104] gesetzten Richt- und Leitlinien mit einer Verfehlung des einzuhaltenden Standards bestehen ohnehin Bedenken,[105] da derartige Vorgaben nicht stets gesteigerten wissenschaftlich-methodischen Anforderungen genügen (bspw. fehlende oder zweifelhafte Evidenz ihrer Grundlagen, mitunter mangelhaftes Verfahren ihrer Erstellung, insbesondere bezüglich der Auswahl der Experten, ggf. fehlende Aktualität sowie mitunter Nichtbeachtung in der Praxis), von sich inhaltlich widersprechenden Leitlinien ganz zu schweigen. Die im medizinischen Binnenbereich gebräuchliche Unterscheidung von Leit- und Richtlinien[106] (sowie sonstigen Empfehlungen der BÄK oder medizinischer Fachgesellschaften) ist für die strafrechtliche Verantwortlichkeit ohne Belang,[107] da es entscheidend auf die – in casu festzustellende – Verfehlung des Standards ohne Vorliegen einer diese Abweichung gestattenden oder gar gebietenden Ausnahmesituation ankommt. Mit den Worten des 6. Zivilsenats des Bundesgerichtshofs: „Handlungsanweisungen in Leitlinien ärztlicher Fachgremien oder Verbände dürfen nicht unbesehen mit dem medizinischen Standard gleichgesetzt werden. Dies gilt in besonderem Maße für Leitlinien, die erst nach der zu beurteilenden medizinischen Behandlung veröffentlicht worden sind. Leitlinien ersetzen kein Sachverständigengutachten. Zwar können sie im Einzelfall den medizinischen Standard für den Zeitpunkt ihres Erlasses zutreffend beschreiben; sie können aber auch Standards ärztlicher Behandlung fortentwickeln oder ihrerseits veralten (w.N.).“[108] Derartige Vorgaben können nicht unbesehen mit dem zur Beurteilung eines Behandlungsfehlers festzustellenden medizinischen Standard gleichgesetzt werden.[109] Sie können kein Sachverständigengutachten ersetzen und nicht unbesehen als Maßstab für den Standard übernommen werden.[110]

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      An der nur indiziellen Funktion[111] von Richt- oder Leitlinien ändert auch die Einhaltung spezifischer Qualitätskriterien, die zur Beurteilung der jeweiligen Wertigkeit dieser Vorgaben entwickelt worden sind (namentlich die Klassifikation der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften in sog. S1 bis S3-Richtlinien[112]) nichts.[113] Ungeachtet der durch das SGB V sowie das AMG erfolgenden Transformation der Ergebnisse evidenzbasierter Medizin in das Medizinrecht, entfalten ihre Ergebnisse auch dann, wenn sie Teil von sog. S3-Richtlinien geworden sind, keine Bindungswirkung i.S.e. Vorgabe eines

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