Handbuch des Strafrechts. Bernd Heinrich

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Handbuch des Strafrechts - Bernd  Heinrich

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bestimmen,[115] lassen die Variationsbreite der möglichen ärztlichen Entscheidungen aufscheinen, so dass sie eher Koordinaten angeben, innerhalb derer sich die ärztliche Entscheidung bewegen sollte.[116] Schließlich ist darauf zu bestehen, dass auch die sozialrechtlich relevanten Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses der Ärzte, Krankenhäuser und Krankenkassen (§ 91 SGB V) – ungeachtet der demokratischen Legitimation dieses Selbstverwaltungsträgers[117] – den ärztlichen Standard für das Zivil- und Strafrecht nicht verbindlich festzulegen vermögen.[118] Diese Richtlinien, denen durchaus Normqualität im rechtlichen Sinne zuzusprechen ist,[119] stehen im unmittelbaren Zusammenhang mit der Qualitätssicherungsaufgabe im GKV-Recht, das eine Art Zulassungsverfahren für ärztliche Behandlungen bereithält. Dieses wird durch die Richtlinien des Bundesausschusses (§§ 92 ff. SGB V), also etwa über die Richtlinien zu Verfahren und Maßnahmen der Qualitätssicherung sowohl im ambulanten (§§ 135 ff. SGB V) wie im stationären Bereich (§§ 137 ff. SGB V) bestimmt. Diese Richtlinien sind sozialrechtlich verbindlich und sanktionsbewehrt (Honorarkürzung oder -verlust). Sie haben formal nichts mit den innerprofessionellen medizinischen Leitlinien zu tun, können sich aber inhaltlich mit jenen decken. Weil diese Richtlinien speziell dem spezifisch sozialrechtlichen Wirtschaftlichkeitsgebot zu dienen haben, können sie außerhalb dieses Rechtsgebietes keine Verbindlichkeit beanspruchen,[120] wenn dort – wie derzeit bei der Fahrlässigkeitsstrafbarkeit – das Wirtschaftlichkeitsziel nicht ausdrücklich normiert ist.[121] Demgegenüber integrieren diese sozialrechtlich verbindlichen Richtlinien von vornherein das Ziel wirtschaftlicher Heilbehandlung und sind deshalb für die zivil- und strafrechtliche Fahrlässigkeitshaftung (Sorgfaltswidrigkeit), die sich am Schutz des Patienten orientiert, nicht vorgreiflich. Ohnehin kommt auch außerhalb des medizinischen Bereichs selbst Sondernormen mit Rechtssatzqualität (bspw. der StVO auf dem Gebiet des Straßenverkehrs) lediglich eine eingeschränkte, nur indizielle Bedeutung zu. Auch bei einem Verstoß gegen deren Vorgaben liegt eine Sorgfaltspflichtverletzung eben nur dann vor, wenn im Einzelfall gerade die vom Normgeber ins Auge gefasste Gefahrenlage vorlag. Umgekehrt vermag ihre Einhaltung sorgfaltswidriges Verhalten nur dann auszuschließen, sofern diese Sondernormen mit Rechtssatzqualität das erlaubte Risiko abschließend festlegen, sie also mehr als nur eine Mindestmaßangabe einzuhaltender Sorgfalt enthalten; auch darf im Einzelfall keine atypische Gefahrenlage, die abweichendes Verhalten gebietet, vorliegen.[122] Es gilt also stets das Richtige und nicht das „Vorschriftsmäßige“ zu tun.[123]

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      Kann im Einzelfall ein etwa bestehendes Nebeneinander sich widersprechender Leitlinien nicht im Sinne der Vorzugswürdigkeit einer Vorgabe ausgeräumt werden, so besteht eine arzthaftungsrechtliche Verpflichtung zur ärztlichen Aufklärung über Behandlungsalternativen: Immer dann, wenn die Medizin sich nicht auf eine Empfehlung verständigen kann, wird sich der Jurist dieser Situation beugen und auf die Steigerung der Aufklärungsanforderung auszuweichen haben.[124]

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      Sofern (zukünftig) einschlägige EU-Richtlinien bei der Auslegung der bundesdeutschen Fahrlässigkeitstatbestände nach dem Gebot unionsrechtskonformer Auslegung konkretisierend heranzuziehen sind, gilt Entsprechendes: Ein von einer entsprechenden Richtlinie gestattetes Verhalten darf zwar vom Ansatz her auch bei entgegenstehenden deutschen Sondernormen – unabhängig davon, ob sie staatlich gesetzt oder nichtstaatlich „erlassen“ worden sind – grundsätzlich nicht als sorgfaltswidrig angesehen werden.[125] Da aber bei der Bestimmung der Sorgfaltswidrigkeit derartigen Sondernormen nur indizielle Bedeutung zukommt, darf ein von einer entsprechenden EU-Richtlinie gedecktes Verhalten dann zur Begründung einer Sorgfaltswidrigkeit herangezogen werden, wenn eindeutig erkennbar ist, dass richtlinienkonformes Verhalten zu einer Schädigung Dritter führen könnte.[126] Angesichts der lediglich indiziellen Funktion einer Zuwiderhandlung gegen eine aus dem Europarecht herzuleitende Sondernorm begründet ein Verstoß gegen ihre Vorgaben umgekehrt nicht zwangsläufig den Vorwurf objektiver Fahrlässigkeit.[127]

      22

      Auch in Bezug auf Richt- und Leitlinien gilt – wie auch sonst bei der Fahrlässigkeitsstrafbarkeit infolge eines Verstoßes gegen Sondernormen – der Grundsatz, dass die korrekte und gewissenhafte Erfüllung der auf den Inhalt rechtlicher Sorgfaltsanforderungen bezogenen Erkenntnisverschaffungspflicht (nur) für den Schuldbereich von Bedeutung ist: Insoweit ist zunächst auf Rn. 139 ff. zur fahrlässigen Tätigkeitsübernahme zu verweisen. – Bei unzureichenden Leitlinien wird dem Täter ein Schuldvorwurf (subjektive Fahrlässigkeit) nur dann zu machen sein, wenn sich ihm die Unzulänglichkeit dieser in Richt- und Leitlinien enthaltenen Vorgaben bei Berücksichtigung seiner persönlichen Kenntnisse und Fähigkeiten auch ohne besondere Nachprüfung hätte aufdrängen müssen.[128] Insoweit kommt den von der medizinischen Profession gesetzten, auf Qualitätssicherung (und damit auch Patientenschutz) zielenden Vorgaben letztlich doch eine gewisse Funktion der „Haftungsimmunisierung“ zu.[129] Da aber Richt- und Leitlinien Ergebnisse des jeweiligen Standes der wissenschaftlichen Erkenntnis und praktischen Erfahrung zum Zeitpunkt ihres „Erlasses“ darstellen, werden sie durch neuere Erkenntnisse relativiert und können somit in einen Gegensatz zum einzuhaltenden Standard geraten: Sie sind relativ im Hinblick auf den Fortschritt der Erkenntnisse.[130] Dies hat für den behandelnden Arzt, der seine Behandlung am ärztlichen Standard auszurichten hat, zur Folge, dass er nicht nur diese Wegweisungen der ärztlichen Institutionen für die Festlegung sorgfaltsgemäßen Vorgehens zu beachten hat, sondern stets prüfen muss, ob in der veröffentlichten medizinischen Literatur Weiterentwicklungen des Erkenntnisstandes in dem fraglichen Feld erkennbar sind, die zu einer Relativierung oder gar Überholung dieser Richt- und Leitlinien führen.[131]

      23

      Weder begründet ein richt- bzw. leitlinienbezogener „Normenverstoß“ stets sorgfaltswidriges ärztliches Verhalten[132] noch vermag die Einhaltung entsprechender Vorgaben, die in der Regel nur auf den Durchschnittsfall abstellen, sorgfaltswidriges Verhalten von vornherein auszuschließen, sofern außergewöhnliche Gefährdungslagen vorliegen.[133] Leit- und Richtlinien können aber die Feststellung eines Behandlungsfehlers erleichtern, die Rechtsanwendung rationalisieren und den Sachverständigen anleiten,[134] da in ihnen nicht nur eine individuell-ärztliche, sondern institutionell-ärztliche Bewertung zum Ausdruck kommt. Dies ändert nichts daran, dass der Schritt vom allgemeinen Standard zum individuellen Fall, also die Standardanwendung im Einzelfall, einer individuellen Sachverständigenbewertung bedarf, weil die Leitlinie i.d.R. selbst eine begründete Abweichung erlaubt oder sogar gebietet. Die Abweichung von einer bestehenden Leitlinie stellt nie automatisch einen Behandlungsfehler dar. Dank ihrer Qualitätssicherungsfunktion bewirkt die Befolgung der Leitlinie aber eine gewisse „Haftungsimmunisierung“.[135] Wer die Richt- und Leitlinie befolgt, dem kann grundsätzlich kein Behandlungsfehler vorgeworfen werden, es sei denn, sie sind veraltet (entsprechen also nicht mehr dem Stand der medizinischen Wissenschaft) oder es liegt ein „Sonderfall“ vor.

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      Wenn Richt- und Leitlinien auch keine Vorgreiflichkeit bei der Bestimmung sorgfaltswidrigen ärztlichen Verhaltens zukommt, so bleibt doch die Frage zu klären, inwieweit diejenigen, die an der Erstellung von vornherein unzutreffender Vorgaben beteiligt waren, strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen sind, wenn es bei Anwendung ihrer Vorgaben zu einer Schädigung des Patienten kommt. Der Umstand, dass ggf. auch der behandelnde

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