Handbuch des Strafrechts. Bernd Heinrich
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Handbuch des Strafrechts - Bernd Heinrich страница 38
f) Differenzierung des anzuwendenden Standards
38
Der maßgebliche „Facharztstandard“ wird nicht nur von den Entwicklungen des jeweiligen Fachgebietes mit seinem steten Wandel von Behandlungsmethoden und ihrer medizinischen und damit mittelbar rechtlichen Anerkennung geprägt.[238] Die erforderliche Sorgfalt als Vermittlungsbegriff zwischen abstrakter Norm und konkretem Geschehen erfährt auch eine situationsbezogene und berufstypische Differenzierung.[239] Die zugrunde zu legenden durchschnittlichen Sorgfaltsanforderungen richten sich – wie auch sonst – an dem engeren sozialen Bereich aus, in dem der Einzelne tätig ist.[240] Diese horizontale Abstufung des zu fordernden Standards, in dem die Anbindung des Rechts an die Möglichkeiten der Medizin zum Ausdruck kommt, berücksichtigt die zwangsläufigen Qualitätsunterschiede bei der Patientenbehandlung, bspw. je nachdem, ob diese in einer großen Universitätsklinik als Stätte der Maximalversorgung, in einer anderen persönlich und apparativ besonders gut ausgestatteten Spezialklinik oder in einem Krankenhaus der Allgemeinversorgung stattfindet.[241] Diese Realität der Patientenversorgung prägt auch die für die Bestimmung des Sorgfaltsmaßstabs ebenfalls heranzuziehende schutzwürdige Vertrauensposition des Patienten, da er von einem Facharzt ein anderes Maß an Sorgfalt erwarten darf (höherer Standard) als von einem Arzt der Allgemeinmedizin; von einem klinisch tätigen Arzt kann er auch von Rechts wegen mehr erwarten als von einem niedergelassenen.[242] Diese Unterschiede an die Durchschnittsanforderungen sorgfaltsgemäßen ärztlichen Verhaltens je nach Fachausbildung des Arztes sowie den dem Arzt zur Verfügung stehenden persönlichen und sachlichen Mitteln sind solange unschädlich, als ein zwar nicht optimaler, aber noch ausreichender medizinischer Standard erreicht werden kann;[243] anderenfalls käme bei Behandlungsdurchführung Übernahmefahrlässigkeit in Betracht (Rn. 142 ff.). Dass eine medizinisch mögliche, aber die Leistungsfähigkeit (im Sinne von Bezahlbarkeit) des Gesundheitssystems überfordernde Maximaldiagnostik und -therapie nicht als Sorgfaltsmaßstab taugt, macht auch der Bundesgerichtshof deutlich: „(Die Sorgfaltsanforderungen dürfen sich nicht) unbesehen an den Möglichkeiten von Universitätskliniken und Spezialkrankenhäusern, sondern (müssen sich) auch an den für diesen Patienten in dieser Situation faktisch erreichbaren Gegebenheiten ausrichten …, sofern auch mit ihnen ein zwar nicht optimaler, aber noch ausreichender medizinischer Standard erreicht werden kann.“[244] Es kann also nicht überall und zu jeder Zeit eine optimale Versorgung, die modernste Technik oder die beste Ausstattung verlangt werden, so dass für eine Übergangszeit aus Kostengründen auch auf die Anschaffung technischer Neuerungen verzichtet und nach der altbewährten, noch nicht verbesserten Methode vorgegangen werden darf.[245] Behandlungsunterschiede sind mithin tolerabel, solange ein noch ausreichender, wenngleich nicht optimaler, medizinischer Standard erreicht wird.[246] Ein derartiger Mindeststandard, der ggf. durch geeignete organisatorische Maßnahmen die Kompensation mäßiger Behandlungsbedingungen vor Ort und von Strukturmängeln im konkreten Behandlungsbereich zu gewährleisten hat,[247] ist aber für die patientenschützende Funktion des (Straf)Rechts unerlässlich.[248]
39
Kann dieser Mindeststandard hingegen nicht erreicht werden und besteht die Möglichkeit, den Patienten in einer besser geeigneten Institution zu behandeln, so würde das Unterlassen einer entsprechenden Überweisung einen Sorgfaltspflichtenverstoß darstellen.[249] Erfolgt unter diesen Umständen ohne ausdrücklichen Konsens des hierüber aufgeklärten Patienten[250] (Rn. 40) eine standardunterschreitende Weiterbehandlung anstelle der gebotenen Überweisung, so läge ein Fall der sog. Übernahmefahrlässigkeit (Rn. 142 ff.) vor. Umgekehrt ist – unter dem Blickwinkel des Behandlungsfehlers – das Unterlassen entsprechender Aufklärung über eine andernorts mit besseren personellen und apparativen Mitteln mögliche Behandlung nicht von Belang, sofern die vor Ort praktizierte Behandlung noch dem jeweils zu fordernden medizinischen Standard genügt.[251] Eine insoweit unterlassene ärztliche Aufklärung wird i.d.R auch nicht die Wirksamkeit der vom Patienten in den Eingriff erteilten Einwilligung berühren. Insoweit dürfte das zu gelten haben, was hinsichtlich möglicher Behandlungsalternativen gilt: Deren Wahl ist solange Sache des Arztes, als es mehrere gleichermaßen Erfolg versprechende und übliche Behandlungsmöglichkeiten gibt; über mögliche Behandlungsalternativen ist nur (aber immerhin) insoweit aufzuklären, als sie mit unterschiedlichen Folgen oder Risiken behaftet sind.[252]
g) Einwilligung des Patienten
40
Ebenso wie bei einer nicht indizierten (Rn. 74 ff.) oder gar kontra-indizierten (Rn. 78) Heilbehandlung eine Einwilligung des hierüber hinreichend aufgeklärten[253] Patienten strafbarkeitsausschließend wirkt, verhält es sich auch bei einer standardunterschreitenden sächlichen oder personellen Ausstattung des Krankenhauses bzw. der Arztpraxis.[254] Hierzu und zur Wirksamkeit der Einwilligung dann aber noch unter Rn. 73 und Rn. 135 ff.
2. Facharztstandard und ökonomische Zwänge
41
Der medizinische Fortschritt einer immer leistungsfähigeren Medizin zieht zwangsläufig eine fortschreitende Kostensteigerung im Gesundheitswesen nach sich: Mit jeder Verbesserung der medizinischen Versorgung finden sich weitere Behandlungsbedürftige; je mehr Krankheiten mehr oder weniger erfolgreich behandelt werden können, umso mehr entwickeln die nunmehr länger lebenden Menschen andere, ggf. ihrerseits noch nicht behandelbare Krankheitsbilder. Da das medizinisch Machbare auch zukünftig über das praktisch Finanzierbare weit hinausreichen wird („Fortschritts-Ausgaben-Spirale“), werden sich die Fragen, inwieweit Ressourcenbeschränkungen im Gesundheitswesen den strafrechtlichen Haftungsmaßstab im Medizinrecht beeinflussen, zukünftig verstärkt stellen.[255] Verschärft wird dies alles zusätzlich durch eine demographische Entwicklung, durch die die Bevölkerungs-Pyramide zum -Pilz mutiert. Da aber auch andere gesellschaftliche Bereiche zur Kostenexplosion neigen, wird über allerorts wachsende Ansprüche letztlich politisch zu entscheiden sein, da das erwirtschaftete Bruttosozialprodukt nicht ausschließlich für das strukturell „unersättliche“ Gesundheitssystem ausgegeben werden kann.[256] So hat auch das Bundesverfassungsgericht[257] ausgeführt, dass der „Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung … auch von finanzwirtschaftlichen Erwägungen mitbestimmt sein (darf) … Gerade im Gesundheitswesen hat der Kostenaspekt für gesetzgeberische Entscheidungen erhebliches Gewicht.“ Da das Bundesverfassungsgericht die Funktionsfähigkeit der gesetzlichen Krankenversicherung als gewichtigen Gemeinwohlbelang eingestuft hat,[258] dürfte insoweit ein nicht unerheblicher Gestaltungsspielraum – jedenfalls für den Gesetzgeber – bestehen,[259] dessen Vorentscheidungen sich auch auf die strafrechtliche Arzthaftung auswirken werden.
a) Rationierung und Priorisierung
42
Das Nachfolgende beschränkt sich auf die etwaigen strafrechtlichen Auswirkungen einer Rationierung bei der Gesundheitsversorgung,[260] also auf das bewusste, knappheitsbedingte Vorenthalten einer aus medizinischer Sicht notwendigen Gesundheitsleistung. Somit bleiben – für die strafrechtliche Haftung