Handbuch des Strafrechts. Bernd Heinrich

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Handbuch des Strafrechts - Bernd  Heinrich

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Vorgabe, dass bei fahrlässigem Mitwirken an einem fremden Fahrlässigkeitsdelikt nur „den Letzten die Hunde beißen“, fremd.[136] Das Austarieren der Verantwortungsbereiche von Richt- und Leitlinien-Aufstellern und dem ihre Vorgaben anwendenden Arzt ist an einer Überlegung auszurichten, die auch sonst im Bereich sog. Sondernormen Geltung beansprucht: Zwar muss jeder sein Verhalten grundsätzlich nur darauf einrichten, nicht selbst fremde Güter zu gefährden, nicht aber darauf, dass andere dies nicht tun (Verantwortungsprinzip).[137] Ungeachtet dieser Zurechnungsbegrenzung kommt jedoch fahrlässiges Handeln der „Norm“-Aufsteller dann in Betracht, sofern sie infolge fachlicher Autorität und geordneten Verfahrensgangs erkennbar die Gewähr für die inhaltliche Richtigkeit und gefahrlose Anwendbarkeit der Norm zu übernehmen haben (wie dies etwa bei DIN- und VDE-„Normen“ der Fall ist).[138] Eine derartige „Gewährübernahme“ dürfte auch bei medizin-intern verfassten Richt- und Leitlinien (auch der Stufe S1) gegeben sein, da es sich bei ihnen um eine auf Qualitätssicherung zielende und mit der Autorität fachlicher Expertise publizierte Behandlungsempfehlung handelt. Auch insoweit gilt der von Lenckner bereits 1969 postulierte Grundsatz,[139] dass „(der eine Anleitung oder Empfehlung Erteilende dann) eine zusätzliche Verantwortung hat …, wenn er kraft überlegener Sachkunde eine besondere Vertrauensposition einnimmt und andere sich deshalb auf ihn zu verlassen pflegen und im allgemeinen auch verlassen dürfen … Dem besonderen Vertrauen, das dem Normgeber … entgegengebracht wird, (entspricht) eine gesteigerte Verantwortung.“ Diese strafrechtliche Zuschreibungsmöglichkeit von Patientenschädigungen gilt auch für den Fall, dass eine fachlich überholte Leit- oder Richtlinie nicht schnell genug überarbeitet oder zumindest für überholt erklärt wird.[140] Die insoweit dann aufgeworfenen dogmatischen Fragen der Strafbarkeit von Kollegialentscheidungen sind von der strafrechtlichen Produkthaftung her bekannt,[141] deren Grundsätze mutatis mutandis heranzuziehen sind.

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      Krankenhausinternen Verhaltensanweisungen (Compliance-Regelungen[142]) als solchen kommt weder eine strafbarkeitseinschränkende noch strafbarkeitserweiternde Funktion zu: Unterschreiten diese Vorgaben dasjenige, was vom Facharztstandard gefordert wird, so vermögen sie nichts an der möglichen Strafbarkeit des behandelnden Arztes zu ändern.[143] Weder werden durch sie die objektiven Sorgfaltsanforderungen abgesenkt noch wird der persönliche Fahrlässigkeitsvorwurf für den behandelnden Arzt entfallen, da von ihm erwartet werden muss, die für ihn handlungsleitenden Vorgaben (Facharztstandard) zu kennen.

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      Stellen diese unternehmensinternen Verhaltensvorgaben hingegen umgekehrt Anforderungen auf, die über den Facharztstandard hinausreichen, so zieht ein Verstoß hiergegen keine Fahrlässigkeitsstrafbarkeit[144] nach sich, solange der behandelnde Arzt sich im vom maßgeblichen Facharztstandard gewährten Behandlungskorridor bewegt. Dies gründet darauf, dass über die Anforderungen der Primärrechtsordnung hinausgreifende Unternehmensregeln keine unmittelbare Relevanz zu entfalten vermögen, weil strafrechtliche Sanktionierung keine Angelegenheit unternehmensinterner Selbstregulierung, sondern alleinige Angelegenheit des Staates ist. Materiell ist ohnehin die sich deutlich vom Bezugspunkt des Facharztstandards unterscheidende Zielrichtung von Compliance-Regelungen als unternehmensinterner Selbstbindung zu beachten. Während der Facharztstandard die Wahrung des gesundheitlichen Wohls des Patienten fokussiert, verfolgen Compliance-Regelungen das Ziel, von vornherein jegliche Haftung des Unternehmens zu vermeiden und hierdurch das Gewinninteresse des Unternehmens zu befördern; hierzu zählt auch der mit Einhaltung über den Facharztstandard hinausreichender Sorgfaltsanforderungen („best practice“[145]) verbundene Reputationsgewinn.[146] Das Wohl des Patienten hingegen wird durch diese Vorgaben (nur) mittelbar befördert. Es sollte auch zukünftig unter dem Blickwinkel des Ultima-ratio-Grundsatzes darauf geachtet werden, dass ökonomisch bedingte „best practice“-Handlungsgebote und strafrechtlicher Sorgfaltsstandard nicht in eins gesetzt werden.[147] Andernfalls würde gerade auch im Bereich der Krankenbehandlung die Befürchtung von Rotsch[148] Realität, der davor warnt, dass „(im) Hinblick auf eine mögliche Fahrlässigkeitsstrafbarkeit … die Besonderheit (besteht), dass Unternehmen etwa mit Richtlinien in einem häufig gesetzlich nicht durchnormierten Bereich die im konkreten Fall einzuhaltenden Sorgfaltsstandards selbst (mit)definieren. Je höher aber dieser Sorgfaltsmaßstab angesetzt wird, desto schwieriger wird es für die Unternehmensmitarbeiter, diese einzuhalten. Damit besteht dann die Gefahr, dass die Unternehmen sich selbst [Ergänzung: und ihre Mitarbeiter] in die Strafbarkeit hineinreglementieren.“ Diese Folge ist allerdings dann unvermeidlich, wenn die zunächst unternehmensintern adressierten Vorgaben infolge allgemeiner Praktizierung den Sorgfaltsmaßstab verkehrsgerechten Verhaltens – sozusagen als „Normsetzung durch die Praxis“[149] – mitbestimmten.[150]

b) Therapiefreiheit

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      Bei der Prüfung, ob ärztliches Verhalten die rechtlich gebotene Sorgfalt verfehlt hat, ist der Grundsatz der Therapiefreiheit als Kernstück ärztlicher Profession zu beachten: Gibt es innerhalb des anerkannten Standards mehrere medizinisch anerkannte Heilmethoden oder hat sich noch kein entsprechender Standard durchgesetzt, so ist dem Arzt in medizinischen Fragen ein gewisser Freiraum einzuräumen.[151] Diese Freiheit zur begründeten Methodenwahl im Einzelfall bildet eine unerlässliche Voraussetzung für eine „sachverständige, wagnisbereite und verantwortungsbewusste ärztliche Berufsausübung“.[152] In den Worten von Laufs erlaubt die Therapiefreiheit dem Arzt „unabhängig von der Fessel normierender Vorschriften, nach pflichtgemäßem und gewissenhaftem Ermessen im Einzelfall mit seinen Eigenheiten, diejenigen medizinischen Maßnahmen zu wählen, die nach seiner Überzeugung unter den gegebenen Umständen den größtmöglichen Nutzen für den aufgeklärt einwilligenden Patienten erwarten lassen.“[153] Hiermit wird zum einen dem Umstand Rechnung getragen, dass zur Beförderung medizinischen Fortschritts Abweichungen vom bislang anerkannten Standard möglich sein müssen.[154] Zum anderen würde eine starre Bindung an eine „herrschende“ Meinung zur sachgerechten Behandlung Gefahr laufen, die Individualität des Behandlungsgeschehens zu verfehlen.[155] Zur Therapiefreiheit gehört auch, dass der Arzt bei der Wahl der Therapie nicht stets auf den jeweils sichersten therapeutischen Weg festgelegt ist. Allerdings muss ein höheres Risiko in den besonderen Sachzwängen des konkreten Falls oder in einer günstigeren Heilungsprognose eine sachliche Rechtfertigung finden.[156] Rechtliche Grenzziehung im Allgemeinen und strafrechtliche im Besonderen haben sich darauf zu beschränken, patientenschützende Mindesterfordernisse für die Ausübung ärztlicher Tätigkeit festzulegen. Durch diese Grenzkontrolle wird dem Umstand Rechnung getragen, dass die Therapiefreiheit als fremdnützige Befugnis (und nicht etwa als ärztliches Privileg[157]) dem Arzt keinen Freibrief einräumt:[158] Die Therapiefreiheit ist dem Arzt keineswegs zweckfrei eingeräumt, sondern gerade zum Wohle seines Patienten. Dem (Straf-)Recht kommt es hingegen angesichts der Besonderheit des Arzt-Patienten-Verhältnisses und der letztlich rational nicht völlig fassbaren Faktoren eines Heilerfolges[159] nicht zu, zwischen mehreren in Rede stehenden Heilverfahren „schiedsrichterlich“ zu entscheiden.[160] Dem Recht unter Einschluss des Strafrechts obliegt nur eine Grenzkontrolle dahingehend, ob der Arzt von dem ihm eingeräumten Spielraum zum Wohle des Patienten Gebrauch gemacht hat.[161] Diese „Ermessenskontrolle“ ist derjenigen ähnlich, die auch für die rechtliche Überprüfung der ärztlichen Indikation als Voraussetzung und Grenze medizinischer Tätigkeit zu gelten hat.[162]

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      Wenn also die Wahl der Behandlungsmethode primär Sache des Arztes ist,[163] so räumt ihm dieser rechtlich nicht nachprüfbare Beurteilungsspielraum dann doch keinen Freibrief für Starrsinn, Leichtsinn oder Unsachlichkeit ein:[164] Von ihm wird eine verantwortliche medizinische Abwägung unter Vergleich der zu erwartenden Vorteile dieser Methode und ihrer abzusehenden Nachteile mit der standardgemäßen Behandlung verlangt, wobei

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