Handbuch des Strafrechts. Bernd Heinrich
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bb) Unzumutbarkeit bei Unterlassungsdelikten
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Hingegen ist der Gedanke der Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens bei Unterlassungsdelikten in weiterem Umfang anzuerkennen als bei Begehungsdelikten und über § 35 StGB hinaus auch in anderen Fällen zu berücksichtigen, in denen die Vornahme der Handlung eigene billigenswerte Interessen gefährden würde.[1134] Dies ist damit zu rechtfertigen, dass das Unterlassen vielfach weniger schwer wiegt als die Vornahme einer verbotenen Handlung, was auch für unechte Unterlassungsdelikte gilt (vgl. § 13 Abs. 2 StGB).[1135] Allerdings hat ein Arzt seinen Patienten auch bei Ansteckungsgefahr weiter zu behandeln: Zwar ist grundsätzlich auch das Eingehen konkreter Leibesgefahren unzumutbar. Dies gilt aber nicht für Personen mit besonderen Gefahrtragungspflichten. Diese haben im Rahmen ihres besonderen Pflichtenkreises hieraus erwachsende Gefahren hinzunehmen.[1136] Freilich bildet die Unzumutbarkeit hier nicht erst einen Entschuldigungsgrund. Vielmehr begrenzt sie bei Unterlassungsdelikten bereits den Umfang der Handlungspflicht und damit – ggf. für Teilnahme und Irrtum relevant – die Tatbestandsmäßigkeit des Unterlassens.[1137] Insoweit sei an die Ausführungen zur fehlenden Strafbarkeit eines Arztes erinnert, der die Übernahme eines Kranken straffrei ablehnen kann, sofern die für diese Behandlung notwendigen Behandlungsmaßnahmen rechtswirksam aus dem sozialgesetzlichen Leistungskatalog ausgegrenzt worden sind (Rn. 57, aber auch Rn. 68). Liegt ein Unglücksfall i.S.v. § 323c StGB vor, dann stellt sich ebenfalls die Frage nach der Unzumutbarkeit budgetüberschreitender Krankheitsbehandlungspflichten. Dies dürfte lediglich im Falle einer wirtschaftlichen Existenzgefährdung anzunehmen sein.[1138]
1. Fehlen des Vorsatzes
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Unterläuft einem Arzt ein Behandlungsfehler, so wird in der Regel seine Strafbarkeit nur unter dem Blickwinkel eines fahrlässigen Erfolgsdelikts (§§ 222, 229 StGB) in Betracht kommen: Regelmäßig wird er – angesichts der ihn leitenden, auf die Verbesserung des gesundheitlichen Zustands seines Patienten gerichteten Intention – in Bezug auf eine unerwünschte Folge seiner Heilbehandlung ohne Körperverletzungs- oder Tötungs-Vorsatz handeln.[1139] Grundsätzlich ist davon auszugehen,[1140] dass ein Arzt die Heilung oder zumindest Verbesserung des Gesundheitszustandes seiner Patienten (bzw. im Rahmen einer „Schönheitsoperation“ die fachgerechte Umsetzung der Patientenwünsche) beabsichtigt, mithin das genaue Gegenteil einer Schädigung im Sinne hat.[1141] Er will normalerweise seine Patienten nicht an ihrer Gesundheit schädigen, sondern ihnen helfen. Dennoch von ihm bewirkte vermeidbare Patienten-Schädigungen werden zumeist auf mangelnder Erfahrung und mangelndem Wissen, vielleicht auch auf mangelnder Prüfung der Sachlage, nicht aber auf einer wissentlichen und willentlichen Zufügung gesundheitlicher Nachteile beruhen.[1142]
2. Eventualvorsatz
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Nach der – hier nicht weiter zu diskutierenden[1143] – Rechtsprechung handelt derjenige mit Eventualvorsatz, der „den Eintritt des tatbestandlichen Erfolgs als möglich und nicht ganz fernliegend erkennt und damit in der Weise einverstanden ist, dass er die Tatbestandsverwirklichung billigend in Kauf nimmt oder sich um des erstrebten Ziels willen wenigstens mit ihr abfindet, mag ihm auch der Erfolgseintritt an sich unerwünscht sein; bewusste Fahrlässigkeit liegt hingegen dann vor, wenn der Täter mit der als möglich erkannten Tatbestandsverwirklichung nicht einverstanden ist und ernsthaft – nicht nur vage – darauf vertraut, der tatbestandliche Erfolg werde nicht eintreten.“[1144]
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Wesentlich ist in diesem Zusammenhang, dass dieses „Billigen im Rechtssinne“ keine positive Gefühlseinstellung des Täters zum Erfolg verlangt, sondern auch dann vorliegen kann, wenn dem Täter der eingetretene Erfolg an sich unerwünscht ist.[1145] Da mithin kein als Zustimmung begreifbarer psychischer Sachverhalt zum Ausdruck gebracht wird,[1146] ergibt das von der Rechtsprechung nach wie vor formelhaft herangezogene „Billigen“ keinen rechten Sinn. Sachentsprechend wird deshalb in der Literatur (sog. Ernstnahmetheorie)[1147] für den dolus eventualis gefordert, dass der Täter sich um des erstrebten Ziels willen mit der – ernsthaft für möglich gehaltenen – Tatbestandsverwirklichung abfindet; bewusst fahrlässig handelt hingegen, wer ernsthaft darauf vertraut, eine für möglich erkannte Tatbestandsverwirklichung werde nicht eintreten. Hiermit wird terminologisch klargestellt, dass – so ja im Ergebnis auch die Rechtsprechung – eine positive emotionale Beziehung des Täters zur Tatbestandsverwirklichung nicht erforderlich ist.
3. Rechtspraktische Problematik[1148]
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Diese liegt auch im arztstrafrechtlichen Bereich in der nicht zu leugnenden Schwierigkeit, die als solche nicht feststellbaren inneren Tatsachen sowohl hinsichtlich des voluntativen als auch des kognitiven Vorsatzelements im Strafverfahren anhand von Indizien beweiskräftig festzustellen.[1149] In die hierfür notwendige Gesamtschau aller Umstände, die für oder gegen die Annahme des Eventualvorsatzes sprechen,[1150] ist im Fall von Tötungsdelikten nach der Rechtsprechung auch die im Verhältnis zur bloßen Verletzung höhere Hemmschwelle gegenüber einer Tötung einzubeziehen:[1151] Ein Schluss von der objektiven Gefährlichkeit einer Handlung auf bedingten Tötungsvorsatz ist zwar grundsätzlich möglich, aber durch Einzelfallumstände eben auch widerlegbar.
a) Arztstrafrechtliche Verfahren
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Hier steht einem Tötungsvorsatz die auf Heilung (bzw. „Verbesserung“ i.Z.m. wunscherfüllender Medizin) gerichtete Motivation zunächst einmal diametral entgegen.[1152] Auch bei medizinisch grob fehlerhaftem Verhalten des Arztes wird die Annahme, dass die Art und Weise der Behandlung eines Patienten durch einen Arzt nicht am Wohl des Patienten orientiert war, häufig fern liegen, so dass die ausdrückliche Erörterung der Frage, ob der Arzt den Patienten vorsätzlich an Leben oder Gesundheit geschädigt hat, nur unter besonderen Umständen geboten ist.[1153] Derartige Konstellationen sind insbesondere dann denkbar, wenn ein Arzt die zur Rettung seines Patienten gebotene Einschaltung anderer Personen deshalb unterlässt, weil er vorangegangene schwere Behandlungsfehler zu verbergen trachtet.[1154] Liegen entsprechende Fehlleistungen vor, legt der Arzt bei erkannter Lebensgefahr für seinen Patienten gar ein Verhalten an den Tag, mit dem er zum Ausdruck bringt, notfalls „auch über Leichen voranzuschreiten“,[1155]