Handbuch des Strafrechts. Bernd Heinrich
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Das Merkmal individueller Vorhersehbarkeit entspricht dem des Wissenselements beim Vorsatz: Dem Täter muss es möglich gewesen sein, diejenigen Elemente des Geschehens zu erkennen, die ihm im Falle vorsätzlichen Handelns hätten bekannt sein müssen. Nach der Rechtsprechung[1098] muss der Erfolg nur im Ergebnis und nicht in den Einzelheiten des dahin führenden Kausalverlaufs voraussehbar gewesen sein. Die Verantwortlichkeit soll aber für solche Ereignisse entfallen, die „so sehr außerhalb aller Lebenserfahrung liegen, dass sie der Täter auch bei der nach den Umständen dieses Falls gebotenen und ihm nach seinen persönlichen Fähigkeiten und Kenntnissen zuzumutenden sorgfältigen Überlegungen nicht zu berücksichtigen brauchte“.[1099] Diese Maßstäbe der Vorhersehbarkeit sind rein subjektiv zu bestimmen, und zwar in ex-ante-Betrachtung, bezogen auf die Lage und Person des Arztes zum Zeitpunkt der Behandlung.[1100] Maßgeblich ist somit nur dasjenige, was der Täter nach seinen persönlichen Kenntnissen und Fähigkeiten[1101] in der konkreten Situation als möglich hätte vorhersehen können. Ihm dürfen also in der Fahrlässigkeitsschuld keine Folgen nur deshalb zugerechnet werden, weil die Lebenserfahrung dafür spricht, dass derartige Folgen durch Handlungen der in Frage stehenden Art herbeigeführt werden. Die Frage, womit „man“ rechnen könne und in welchem Umfang der eingetretene Ablauf und die eingetretenen Folgen im Rahmen des nach normaler menschlicher Erfahrung Möglichen liegen, ist bereits (und nur) i.Z.m. der objektiven Vorhersehbarkeit im Rahmen der objektiven Zurechnung zu berücksichtigen.[1102] Im Bereich der Vorwerfbarkeit ist dagegen der Nachweis erforderlich, dass der Täter in diesem konkreten Falle mit der Möglichkeit hätte rechnen können, dass derartige Erfolge durch seine Handlung herbeigeführt würden.[1103] Es kommt entscheidend darauf an, dass der Täter wenigstens Veranlassung hatte anzunehmen, dass sein Verhalten riskant sei und daher zu einem Erfolg führen könnte,[1104] wobei allerdings die bloße Erkennbarkeit dieser besonderen Veranlassung genügt.[1105] Allerdings haben ältere strafgerichtliche Entscheidungen mitunter Erfolge bereits dann zur Last gelegt, wenn nach allgemeiner Erfahrung mit ihnen zu rechnen war. Bei einem durch Sondernormen definierten Sorgfaltsmaßstab (im Bereich der Heilbehandlung konturiert durch Leitlinien, siehe Rn. 15 ff.) hat das OLG Düsseldorf[1106] aus dem objektiv vorauszusetzenden Kenntnisstand hinreichende Rückschlüsse auf die individuelle Vorhersehbarkeit zugelassen. Derartiges Schlussfolgern,[1107] das aus der Feststellungsnot der Praxis geboren ist,[1108] ist nicht unbedenklich.[1109] Es darf nicht darauf hinauslaufen, dass dem Verursacher einer Verletzung alles zur Last fällt, was nach allgemeiner Erfahrung aus der Verletzung entstehen kann. Dann würden nämlich – wie bei der rein objektiv zu bestimmenden zivilrechtlichen Fahrlässigkeit – in unzulässiger Weise Adäquanzkriterien zur Beurteilung individueller Fahrlässigkeit herangezogen.[1110]
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Auch im Bereich der Heilbehandlung wirft die Feststellung der subjektiven Voraussehbarkeit im Falle bewusster Fahrlässigkeit keine besonderen Probleme auf: Der Täter hat dann ja über die Gefährlichkeit seines Verhaltens und die Möglichkeit des Erfolgseintritts reflektiert, aber pflichtwidrig darauf gehofft, dass diese sich nicht realisieren werde.[1111] Im Falle unbewusster Fahrlässigkeit hingegen fehlt dem Täter die Voraussicht im Hinblick auf den Erfolg; er hätte sich aber der Gefahr und damit der Möglichkeit eines Schadens bewusst werden können. Auch bei der unbewussten Fahrlässigkeit haben aber die individuellen Fähigkeiten des Täters (wie etwa Intelligenz, körperliche Leistungsfähigkeit, Vorbildung, Erfahrungswissen) den alleinigen Maßstab dafür abzugeben, ob er den Erfolg vorhersehen konnte. Dies setzt mindestens voraus, dass der Täter nach seiner bisherigen Erfahrung den Impuls zur Überprüfung der Gefährlichkeit seines Verhaltens spürt oder sich diese Gefahr ihm nach seinem bisherigen Erfahrungswissen aufdrängen musste. Dabei kommt es entscheidend darauf an, in welchen Lebensbereich die gefährliche Handlung fällt: Je komplizierter der Lebensvorgang ist, in dem sich ein möglicherweise gefährlicher Kausalzusammenhang abspielt, desto sorgfältiger ist zu prüfen, ob der Täter nach seinen Fähigkeiten eine Einsicht in die Gefährlichkeit des Vorgangs gewinnen konnte. Dies darf gerade im Bereich ärztlicher Heilbehandlung nicht außer Acht gelassen werden. Allerdings gibt es auch in diesem Bereich Handlungsvollzüge, deren Gefährlichkeit für jedermann derart auf der Hand liegen (bspw. das Nichtbeachten elementarer Hygienevoraussetzungen), dass eine Patientenschädigung und der mögliche Kausalzusammenhang einfach genug sind, „um auch dem beschränktesten Gemüt einzuleuchten.“[1112] Da dann im Allgemeinen auch von jedermann die notwendige Voraussicht erwartet werden kann und muss, dürfte die Begründung des individuellen Schuldvorwurfs nicht schwerfallen. Allerdings finden sich in der Rechtspraxis durchaus (nicht veröffentlichte) Fälle von ärztlichen Patientenschädigungen, in denen die subjektive Vorhersehbarkeit verneint wurde.[1113]
c) Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens
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Die Unzumutbarkeit bildet keinen allgemeinen übergesetzlichen Entschuldigungsgrund.[1114] Ein derartiger allgemein anwendbarer Entschuldigungsgrund lässt sich auch nicht aus dem Verfassungsrecht ableiten.[1115] Die gilt gerade für den Bereich der vorsätzlichen Begehungsdelikte.[1116] Dort ist über die gesetzlich anerkannten Fälle hinaus[1117] nur die Entstehung einzelner, inhaltlich begrenzter Entschuldigungsgründe im Wege vorsichtiger Analogie möglich, sofern Unrecht und Schuld in gleichem Maß gemildert sind wie in den geregelten Fällen. I.Ü. kann der (Un-)Zumutbarkeit nur die Funktion eines „regulativen Prinzips“ (Henkel[1118]) bei der Auslegung einzelner Vorschriften zukommen.[1119]
aa) Allgemeines Regulativ
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Auch bei Fahrlässigkeitsdelikten hat die Unzumutbarkeit die Funktion eines allgemeinen Regulativs. Abgesehen davon, dass Zumutbarkeitserwägungen schon die objektive Sorgfaltspflicht begrenzen können,[1120] gilt hier der Grundsatz, dass den Täter ein Fahrlässigkeitsschuldvorwurf nicht trifft, wenn ihm die Erfüllung der objektiven Sorgfaltspflicht unzumutbar war.[1121] Zwar ist umstritten, ob dies daraus folgt, dass hier das Maß der vom Täter persönlich zu verlangenden Sorgfalt entsprechend begrenzt ist[1122] oder ob die Unzumutbarkeit bei Fahrlässigkeitsdelikten einen allgemeinen übergesetzlichen Entschuldigungsgrund darstellt.[1123] Dem Zumutbarkeitsgedanken dürfte in diesem Zusammenhang eine doppelte Funktion zukommen:[1124] Geht es darum, was gerade dieser Täter hätte erkennen bzw. voraussehen können, so können auch, wenn kein Fall des individuellen Unvermögens vorliegt, Zumutbarkeitserwägungen schon die den Täter persönlich treffende Sorgfaltspflicht begrenzen und insoweit dem Fahrlässigkeitsschuldvorwurf bereits die Grundlage entziehen, so etwa dann, wenn er sich zwar durch Ausschöpfung aller ihm zugänglichen Erkenntnismittel das erforderliche Wissen hätte verschaffen können, von ihm aber billigerweise nicht mehr, als er tatsächlich getan hat, verlangt werden konnte.[1125] Dies kann für die ärztliche Fahrlässigkeitsstrafbarkeit dann belangvoll sein, wenn ihm – objektiv zu Recht – vorgehalten wird, er habe sich nicht hinreichend weitergebildet[1126] oder hochentwickelte technische Geräte nicht hinreichend kontrolliert.[1127] Insoweit kann insbesondere Arbeitsüberlastung im Einzelfall den Vorwurf individueller Sorgfaltswidrigkeit entfallen lassen. In seiner zweiten Bedeutung tritt der Zumutbarkeitsgedanke bei fahrlässigen Erfolgsdelikten dann in Erscheinung, wenn der Täter zwar wusste oder (in für ihn zumutbarer Weise) hätte erkennen können, dass er die objektiv gebotene Sorgfalt verletzt, ihm die Unterlassung des unsorgfältigen Tuns aber mit Rücksicht auf sonst eintretende Nachteile nicht zumutbar war.[1128] In dieser Funktion stellt die Unzumutbarkeit einen übergesetzlichen Entschuldigungsgrund dar, der wegen des geringeren Unwertgehalts der Fahrlässigkeit nicht auf den engen Bereich des § 35 StGB beschränkt ist. Hier ist der Täter grundsätzlich umso eher entschuldigt, je erheblicher bei objektiver Wertung[1129] der ihm drohende Nachteil und je geringer die Gefahr nach Art, Umfang und Grad der Wahrscheinlichkeit des Erfolgseintritts (mithin auch der Grad