Handbuch des Strafrechts. Bernd Heinrich
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Da das Institut der rechtfertigenden Pflichtenkollision auf ein Zusammentreffen zweier Handlungspflichten zu beschränken ist,[1070] fällt ein Zusammentreffen einer ärztlichen Handlungspflicht (bspw. zur Durchführung einer vital indizierten Operation) sowie einer Unterlassungspflicht (Unzulässigkeit[1071] einer Heilbehandlung infolge eines vom Patienten aktuell bzw. vorab in seiner Patientenverfügung erklärten Behandlungsvetos) von vornherein nicht in ihren Anwendungsbereich. Diese scheinbare Kollision miteinander unvereinbarer Gebote der Rechtsordnung unterliegt i.Ü. auch nicht den Regeln des rechtfertigenden Notstands (§ 34 StGB),[1072] da es von vornherein an einer Kollisionslage (nicht anders abwendbare Gefahr) fehlt: Da eine gegen den Willen des Patienten vorgenommene Heilbehandlung gegen dessen grundrechtlich geschützten Freiheitsrechte (zumindest[1073] Art. 2 Abs. 2 GG sowie Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG sind einschlägig[1074]) verstößt, entfällt angesichts dieses Behandlungsverbots die ärztliche Behandlungspflicht. Dass in dieser Situation ein Verbot mit einem Gebot kollidiert, führt zu keinen weitergehenden Eingriffsrechten.[1075]
2. Schuldvorwurf
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Ein Schuldvorwurf kann wie auch sonst bei Fahrlässigkeitsdelikten gegen den Arzt nur dann erhoben werden, wenn er nach seinen persönlichen Fähigkeiten in der für den Schuldvorwurf maßgeblichen Situation in der Lage war, die ihm obliegende Sorgfaltspflicht zu erkennen und zu erfüllen, sowie einen zur Tatbestandserfüllung gehörenden Erfolg vorauszusehen.[1076] Des Weiteren muss ihm ein normgerechtes Verhalten zumutbar gewesen sein.
a) Subjektive Pflichtwidrigkeit[1077]
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Zur Wahrung des verfassungsrechtlich vorgegebenen Schuldprinzips[1078] ist – anders als im Zivilrecht mit seinem auf die allgemeinen Verkehrsbedürfnisse ausgerichteten rein objektivem Fahrlässigkeitsmaßstab[1079] – zur Beantwortung der Frage, ob der Täter die ihm obliegende Sorgfaltspflicht in vorwerfbarer Weise nicht beachtet hat, ein subjektiver Maßstab anzulegen. Dies bedeutet, dass der Täter nach seinen individuellen Fähigkeiten, Kräften, Erfahrungen und Kenntnissen in der kritischen Situation die sorgfaltswidrige Handlung und den Erfolg hätte vermeiden können. Als Umstände, die den Täter entlasten können, sind etwa intellektuelle oder körperliche Mängel, Altersabbau sowie mangelndes Erfahrungswissen anzusehen. Diese Subjektivierung des Maßstabes darf nicht dadurch unterlaufen werden, dass bei der Beurteilung der persönlichen Fähigkeiten von allgemeinen Erfahrungssätzen und damit im Regelfall vom Vorliegen einer Fahrlässigkeitsschuld ausgegangen wird, sofern gegenteilige Anhaltspunkte nicht ersichtlich sind.[1080] Würde man sich nämlich eine dem Beschuldigten an Lebensalter, Intelligenz und Kenntnissen vergleichbare Person vorstellen und sich fragen, ob dieser andere „nach unseren Erfahrungen fähig gewesen wäre, den Anforderungen an die … Sorgfalt zu genügen, die zur Vermeidung des tatbestandsmäßigen Erfolges zu stellen waren“,[1081] so würde diese Orientierung an „ominösen ‚Maßfiguren‘ und einer diffusen ‚allgemeinen Lebenserfahrung‘“[1082] mit der damit verbundenen partiellen Objektivierung des Fahrlässigkeitsmaßstabs auch im Schuldbereich den allein schuldangemessenen individualisierenden Maßstab unzulässig überspielen.[1083]
aa) Einzelfälle
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Einzelfälle: Bei nachträglicher Verschärfung einer Verhaltensnorm (bspw. im Falle einer von der Rechtsprechung als unzulänglich erkannten Leitlinie) entfällt regelmäßig eine auch individuell vorwerfbare Sorgfaltspflichtverletzung.[1084] Es ist mithin zwischen der mit Zukunftswirkung zu verschärfenden Verhaltensnorm und dem für das Täterverhalten maßgeblichen, ex ante geltenden Verhaltensunrecht zu trennen.[1085] – Im Falle infolge überdurchschnittlicher Fähigkeiten objektiv erhöhter Anforderungen an die vom Arzt einzuhaltende Sorgfalt (oben unter Rn. 67) ist zu beachten, dass dieses Höchstmaß an Leistung, das der Täter zu erbringen imstande ist, zwar die Grundlage der für ihn geltenden Sorgfaltspflicht bildet, von ihm aber nicht von Rechts wegen erwartet werden darf, diesen Idealanforderungen stets zu genügen. So kann im Einzelfalle ein individueller Fahrlässigkeitsvorwurf entfallen, wenn bei einer schwierigen Operation, die infolge nicht vorhersehbarer Komplikationen über mehrere Stunden dauert, dem dann übermüdeten Chirurgen ein Fehler unterläuft, der angesichts seiner im Regelfall erhöhten Leistungsfähigkeit als objektiv sorgfaltswidrig einzustufen ist. – Auch wird in einer Notfallsituation, in der einem Patienten keine andere Hilfe zuteilwerden kann, eine den objektiv gebotenen Standard unterschreitende Eilmaßnahme des hierfür nicht hinreichend qualifizierten Arztes zumindest schuldlos erfolgen.[1086] – Missversteht eine Krankenschwester eine mündliche ärztliche Anordnung und verabreicht dem Patienten infolgedessen eine erhöhte und deshalb für ihn tödliche Dosis (50 anstelle von 5 ccm Chloroform), so besteht für sie kein Anlass, hierzu bei anderen Krankenschwestern ausdrücklich nachzufragen.[1087] – Wäre eine besondere Narkoseanfälligkeit des Patienten auch bei Hinzuziehung eines Facharztes möglicherweise nicht entdeckt worden, so fehlt es bei dem für die tödliche Narkose verantwortlichen Arzt zumindest an der individuellen Sorgfaltswidrigkeit.[1088]
bb) Fahrlässige Tätigkeitsübernahme
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Kann gegen den Arzt (bspw. wegen mangelnder Fachkenntnisse oder Ermüdung) ein Schuldvorwurf in der konkreten Handlungssituation nicht erhoben werden, so kann aber möglicherweise ein – auch subjektiv zurechenbarer – Fahrlässigkeitsvorwurf nach den Grundsätzen der Übernahmefahrlässigkeit erhoben werden. Bei einer objektiv pflichtwidrigen Tätigkeitsübernahme kommt ein Schuldvorwurf jedoch nur dann in Betracht, wenn der Täter weiß oder zumindest hätte wissen können, welche Gefahren für den Patienten er zu meistern hat und welche Fähigkeiten hierfür erforderlich sind.[1089] So würde im Falle einer infolge Altersabbaus reduzierten individuellen Leistungsfähigkeit der Arzt nur dann schuldhaft handeln, wenn ihm dieser Abbau entweder bekannt oder zumindest erkennbar war.[1090] Kann ein Arzt infolge Übermüdung die objektiv gebotene Sorgfalt nicht (mehr) einhalten, so wird ihm im Regelfall ein Schuldvorwurf zu machen sein, da Ermüdungsanzeichen ihm ein hinreichendes „Veranlassungsmoment“[1091] hätten sein müssen, von seiner den Patienten schädigenden Verhaltensweise Abstand zu nehmen.[1092] Es kann von Ärzten aufgrund ihrer Ausbildung und Erfahrung erwartet werden, dass sie besser als andere beurteilen können, wann allgemein mit einem im Schutzinteresse des Patienten nicht mehr zu tolerierenden Nachlassen der körperlichen und geistigen Fähigkeit des operierenden Arztes zu rechnen ist.[1093] Auch verlangt die – insoweit durchaus in das Strafrecht zu übertragende – Zivilrechtsprechung, dass der Arzt (auch ein Berufsanfänger) sich selbstkritisch prüft, ob er über die für die Behandlungsmaßnahme erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten verfügt.[1094] Insoweit wird gerade von einem Berufsanfänger erwartet, dass „er gegenüber seinen Fähigkeiten besonders selbstkritisch und sich der u.U. lebensbedrohenden Gefahren für einen Patienten bewußt ist, die er durch gedankenloses Festhalten an einem Behandlungsplan, durch Mangel an Umsicht oder das vorschnelle Unterdrücken von Zweifeln heraufbeschwören kann.“[1095] In Bezug auf Pflichten einer ärztlichen Berufsanfängerin betonte der 6. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs, dass „berufliche Unerfahrenheit und eine Überforderung (einer zivilrechtlichen Verantwortlichkeit) … nicht entgegen(steht), weil es rechtlich auf die auch von der Anfängerin zu erwartende Einsicht in ihre nicht ausreichenden medizinischen Kenntnisse und Erfahrungen angesichts der für sie erkennbaren unklaren und für den Patienten gefährlichen Umstände ankommt.“[1096] Konnte der noch nicht hinreichend berufserfahrene Arzt aber im Einzelfall nicht erkennen, dass seine mindere Qualifikation den Patienten gefährden könnte, dann fehlt es am individuellen Fahrlässigkeitsvorwurf.[1097]