Handbuch des Strafrechts. Bernd Heinrich
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II. Die Risiko-Nutzen-Abwägung als zentrale Zulässigkeitsvoraussetzung für Versuchsbehandlungen
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Ein zentrales Element der Rechtfertigung von Versuchsbehandlungen bildet die bereits in den eingangs (vgl. Rn. 4) erwähnten Richtlinien des Reichsministeriums des Innern aus dem Jahr 1931 vorausgesetzte Risiko-Nutzen-Abwägung, die überdies zu einem bestimmten Abwägungsergebnis führen muss.[91] Auch die Einwilligung des aufgeklärten Patienten bzw. Probanden (der sog. informed consent) befreit grundsätzlich nicht von dem Erfordernis eines angemessenen Verhältnisses zwischen drohenden Schäden und zu erwartendem Nutzen.[92] Art. 28 Abs. 1 lit. e der VO (EU) Nr. 536/2014 über klinische Prüfungen mit Humanarzneimitteln definiert darüber hinaus ein absolutes Schutzniveau mit der Forderung, klinische Prüfungen müssten so geplant werden, „dass sie mit möglichst wenig Schmerzen, Beschwerden, Angst und allen anderen vorhersehbaren Risiken für die Prüfungsteilnehmer verbunden (sind) und sowohl die Risikoschwelle als auch das Ausmaß der Belastung im Prüfplan eigens definiert und ständig überprüft werden“ (ebenso Art. 62 Abs. 4 lit. i der Medizinprodukte-VO [EU] 2017/745).[93] Nach der ständigen höchstrichterlichen Rechtsprechung ist ein Heilversuch nur indiziert, „wenn die verantwortliche medizinische Abwägung und ein Vergleich der zu erwartenden Vorteile dieser Methode und ihrer abzusehenden und zu vermutenden Nachteile mit der standardgemäßen Behandlung unter Berücksichtigung des Wohles des Patienten die Anwendung der neuen Methode rechtfertigt“.[94] Die Risiko-Nutzen-Abwägung wird hier mithin in die medizinische Indikationsstellung integriert.
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Bei der rechtlichen Beurteilung von Forschungseingriffen werden mit dem Fremd-, dem Eigen- und dem Gruppennutzen drei verschiedene Formen der Nutzenallokation unterschieden, wobei als ausschlaggebend für die (auch rechtlich bedeutsame) Einordnung eine ex ante-Beurteilung des jeweiligen Einzelfalles auf der Grundlage einer wissenschaftlichen Prognose gilt.[95] Ungeachtet allfälliger Überschneidungen und Trennungsunschärfen der verwendeten Kategorien versteht man unter einem Fremdnutzen denjenigen Nutzen, der sich nicht für den einzelnen Studienteilnehmer, sondern ausschließlich für Dritte – insbesondere für zukünftige Patienten, denen das zu erprobende Präparat zugutekommen soll – ergibt. Demgegenüber besteht der Eigennutzen im individuellen (gesundheitlichen) Nutzen des Teilnehmers selbst; ein Eigennutzen ist mithin nur dann gegeben, wenn die Teilnahme einen therapeutischen, diagnostischen oder präventiven Nutzen mit sich bringt. Maßgebliche Bedeutung kommt in diesem Zusammenhang der medizinischen Indikation zu; der Eigennutzen muss sich unmittelbar aus der Anwendung des Arzneimittels oder Medizinprodukts im Rahmen der Studie ergeben und darf nicht lediglich in einer möglichen späteren Partizipation an dem erhofften wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn bestehen.[96] Unter dem Gruppennutzen wird schließlich der Nutzen verstanden, der einem bestimmbaren Personenkreis zugutekommt, zu dem auch der Studienteilnehmer gehört. Zu denken ist hier grundsätzlich an nach Studienende zur Verfügung stehende verbesserte Diagnose- und Behandlungsoptionen, aber auch an Fortschritte bei der Krankheitserforschung, die ihrerseits als Ausgangspunkt für anwendungsorientierte Forschung dienen können.[97] Vor diesem Hintergrund kann man von einer privilegierten Form des Fremdnutzens sprechen.[98]
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Die vorstehend skizzierten Kategorien der Nutzenallokation haben in unterschiedlichem Ausmaß Eingang in die nationalen und internationalen Bestimmungen des Rechts der medizinischen Forschung gefunden: So macht § 40 Abs. 1 S. 3 Nr. 2 AMG die Durchführung der klinischen Prüfung eines Arzneimittels davon abhängig, dass „die vorhersehbaren Risiken und Nachteile gegenüber dem Nutzen für die Person, bei der sie durchgeführt werden soll (betroffene Person), und der voraussichtlichen Bedeutung des Arzneimittels für die Heilkunde ärztlich vertretbar sind“. Rechtfertigende Bedeutung kann mithin nicht nur der erwartete Eigennutzen für den Teilnehmer, sondern auch ein etwaiger Fremdnutzen zugunsten der Allgemeinheit in Form des sog. Heilkundenutzens entfalten (i.d.S. auch Art. 28 Abs. 1 lit. a der VO [EU] 536/2014 über klinische Prüfungen mit Humanarzneimitteln; vgl. auch § 20 Abs. 1 S. 4 Nr. 1 MPG a.F. sowie nunmehr Art. 62 Abs. 4 lit. e der Medizinprodukte-VO [EU] 2017/745 für Medizinprodukte). Ein strengerer Maßstab gilt demgegenüber für klinische Studien mit einwilligungsunfähigen erwachsenen Teilnehmern und gesunden Minderjährigen; bei diesen kommt nach § 41 Abs. 3 Nr. 1 AMG bzw. § 40 Abs. 4 Nr. 1 AMG lediglich eine Rechtfertigung nach dem Prinzip des Eigennutzens in Betracht (zur partiellen Neuregelung durch das 4. AMG-ÄndG sogleich in Rn. 30). Dasselbe galt in der Vergangenheit auch für Medizinproduktestudien mit Minderjährigen sowie mit schwangeren oder stillenden Teilnehmerinnen (vgl. § 20 Abs. 4 Nr. 2, Abs. 5 Nr. 2 MPG a.F.).[99] Auch zur Rechtfertigung der studienbedingten Anwendung von radioaktiven Stoffen und ionisierender Strahlung bei einwilligungsunfähigen und minderjährigen Personen kann lediglich auf den Eigennutzen der Betroffenen rekurriert werden (§ 136 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 StrlSchV).[100]
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Auf das Legitimationsprinzip des Gruppennutzens hat der deutsche Gesetzgeber bislang eher zurückhaltend und lediglich für einen Teilbereich der klinischen Prüfung von Arzneimitteln zurückgegriffen (vgl. § 41 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 und Abs. 2 S. 1 Nr. 2a AMG für einwilligungsfähige Erwachsene und Minderjährige). Eine tendenziell großzügigere Verwendung hat das Prinzip des Gruppennutzens auf europäischer und internationaler Ebene gefunden; dies gilt insbesondere für Studien mit nicht einwilligungsfähigen Personen (vgl. z.B. Ziff. 28 DvH sowie Art. 17 Abs. 2 der – von Deutschland bislang nicht unterzeichneten – Biomedizinkonvention des Europarates[101]). Die VO (EU) 536/2014 über klinische Prüfungen mit Humanarzneimitteln macht ebenfalls an verschiedenen Stellen Gebrauch vom Legitimationsprinzip des Gruppennutzens: Danach kann ein Nutzen für die repräsentierte Bevölkerungsgruppe klinische Prüfungen mit nicht einwilligungsfähigen Personen (Art. 31 Abs. 1 lit. g ii), mit Minderjährigen (Art. 32 Abs. 1 lit. g ii) sowie mit schwangeren und stillenden Frauen (Art. 33 lit. b ii) rechtfertigen, wobei jeweils einschränkend postuliert wird, dass die Prüfung den Prüfungsteilnehmer (bzw. den Embryo, den Fötus oder das Kind nach der Geburt) lediglich einem minimalen Risiko und einer minimalen Belastung aussetzen darf. In Bezug auf nicht einwilligungsfähige Prüfungsteilnehmer bleiben überdies mögliche strengere nationale Regelungen gemäß Art. 31 Abs. 2 der Verordnung unberührt.[102] Der deutsche Gesetzgeber hat von dieser Öffnungsklausel insofern Gebrauch gemacht, als gruppennützige klinische Prüfungen bei einwilligungsunfähigen Erwachsenen gemäß § 40b Abs. 4 S. 3 AMG n.F. zukünftig nur durchgeführt werden dürfen, soweit die betroffene Person im Zustand der Einwilligungsfähigkeit und Volljährigkeit eine Vorausverfügung für den Fall des Eintritts der Einwilligungsunfähigkeit getroffen hat. Aufgabe des Betreuers ist es, zu prüfen, ob die in der Vorausverfügung enthaltenen Festlegungen auf die aktuelle Situation zutreffen (§ 40b Abs. 4 S. 4 AMG n.F.).[103] Art. 66 der Medizinprodukte-VO (EU) 2017/745 verlangt für die Durchführung klinischer Prüfungen von Medizinprodukten mit schwangeren oder stillenden Frauen zusätzlich zu den in Art. 62 Abs. 4 der VO genannten Voraussetzungen, dass die Prüfung entweder „unter Umständen einen direkten Nutzen für die betroffene schwangere oder stillende Frau oder ihren Embryo oder Fötus oder ihr Kind nach der Geburt zur Folge (hat), der die Risiken und Belastungen überwiegt“ (lit. a) oder „bei Forschungsvorhaben mit stillenden Frauen (…) in besonderem Maße dafür Sorge getragen (wird), dass eine Beeinträchtigung der Gesundheit des Kindes ausgeschlossen ist“ (lit. b).
III. Rechtliche Anforderungen an die Durchführung von Heilversuchen
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Als ärztlicher Heileingriff unterfällt der Heilversuch den insofern einschlägigen straf- und zivilrechtlichen Regelungen.