Handbuch Arzthaftungsrecht. Alexander Raleigh Walter
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I. Grundsatzentscheidungen zur Kenntnis von einem schadenskausalen Behandlungsfehler
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In verjährungsrechtlichen Streitigkeiten wird noch heute eine ältere Entscheidung des BGH zum Verjährungsbeginn in Arzthaftpflichtsachen diskutiert, Urteil vom 20.9.1983[2], in welcher der BGH zwei Positionen aufstellt, die in einem dort nicht gelösten Spannungsverhältnis zueinander stehen. Zum einen wird konstatiert, dass es nur auf die Kenntnis der anspruchsbegründenden Tatsachen ankomme, nicht auf deren zutreffende rechtliche Würdigung „und erst Recht nicht darauf, ob der Geschädigte aus den ihm bekannten Tatsachen zutreffende Schlüsse auf den in Betracht kommenden naturwissenschaftlich zu erkennenden Kausalverlauf zieht“. Zum anderen hält der BGH aber schon dort fest, „dass es die Besonderheiten des Arzthaftpflichtprozesses gebieten, nicht vorschnell von der Tatsache, dass eine zum Schaden führende Verletzungshandlung offenbar ist, auf einen schuldhaften Behandlungs- (oder Aufklärungs-)fehler zu schließen.“ Wegen der bei ärztlichen Eingriffen häufig weder vorausschauend noch rückwirkend eindeutig feststellbaren Kausalverläufe würden Misserfolge und Komplikationen im Verlauf einer ärztlichen Behandlung nicht stets auf ein Fehlverhalten des behandelnden Arztes hinweisen. „Eine ausreichende Kenntnis des Patienten von Tatsachen, die ein derartiges Fehlverhalten nahelegen, setzt deshalb zum Beispiel die Kenntnis der wesentlichen Umstände des Behandlungsverlaufs, insbesondere auch etwaiger anatomischer Besonderheiten, eines vom Standard abweichenden ärztlichen Vorgehens, des Eintritts von Komplikationen und der zu ihrer Beherrschung ergriffenen Maßnahmen voraus.“
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Unter diesem zweiten Gesichtspunkt hätte der BGH in dieser Entscheidung eigentlich nicht zu einer den Verjährungsbeginn auslösenden Kenntnis kommen können, denn es fehlen in den Urteilsgründen jegliche Anhaltspunkte dafür, dass der Patient in verjährungsrelevanter Zeit etwas vom Abweichen vom ärztlichen Standard wusste. Die Entscheidung wurde deshalb schon damals von Taupitz[3] als widersprüchlich kritisiert und wird heute durch die weitere Rechtsprechung des BGH als überholt angesehen[4].
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Inzwischen tritt der Einwand, dass eine zutreffende medizinische Würdigung unerheblich sei, deutlich hinter das Erfordernis zurück, dass der Patient erkennen muss, dass der aufgetretene Schaden auf einem fehlerhaften Verhalten der Behandlerseite beruht.
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Schon in seiner Entscheidung vom 23.4.1985[5] macht der BGH deutlich, dass es nicht ausreicht, dass die Klägerseite argwöhnt, der Beklagte habe etwas falsch gemacht, „weil bloße Vermutungen ohne tatsächliche Grundlage einer Kenntnis des tatsächlichen Verlaufs nicht gleichstehen“.
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Nach der Entscheidung des BGH vom 23.4.1991[6] genügt es nicht schon, dass der Patient Einzelheiten des ärztlichen Tuns oder Unterlassens kennt, „vielmehr muss ihm aus seiner Laiensicht der Stellenwert des ärztlichen Vorgehens für den Behandlungserfolg bewusst sein. Deshalb beginnt die Verjährungsfrist nicht zu laufen, bevor nicht der Patient als medizinischer Laie Kenntnis von Tatsachen erlangt, aus denen sich ergibt, dass der Arzt von dem üblichen ärztlichen Vorgehen abgewichen ist oder Maßnahmen nicht getroffen hat, die nach ärztlichem Standard zur Vermeidung oder Beherrschung von Komplikationen erforderlich waren.“
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Noch etwas einfacher drückt es der BGH in seiner Entscheidung vom 29.11.1995[7] aus: „Er (der Patient) muss vielmehr auch Kenntnis von einem ärztlichen Behandlungsfehler haben.“
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In seiner Entscheidung vom 24.6.1999[8] ergänzt der BGH: „Der Hinweis sogar eines Arztes auf eine mögliche Schadensursache vermittelt noch keine Kenntnis der anspruchsbegründenden Tatsachen.“
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In seiner ersten Entscheidung zum Verjährungsbeginn in Arzthaftungssachen nach der Schuldrechtsmodernisierung, also auf der Grundlage des § 199 Abs. 1 Nr. 2 BGB n.F., hat der BGH diese Grundsätze unterstrichen und die erforderliche Kenntnis vom Abweichen vom ärztlichen Standard erst dann angenommen, „wenn die dem Anspruchsteller bekannten Tatsachen ausreichen, um den Schluss auf ein schuldhaftes Fehlverhalten des Anspruchsgegners und auf die Ursache dieses Verhaltens für den Schaden bzw. die erforderliche Folgeoperation als naheliegend erscheinen zu lassen (. . .). Denn nur dann wäre dem Geschädigten die Erhebung einer Schadensersatzklage, sei es auch nur in Form der Feststellungsklage, erfolgversprechend, wenn auch nicht risikolos, möglich (. . .).“[9]
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Nach anhaltender Diskussion darüber, ob nicht doch die Kenntnis von den Behandlungsdaten und dem Behandlungsverlauf ausreiche, hat der BGH in seiner Entscheidung vom 8.11.2016[10] noch einmal klargestellt, dass Kenntnis von einem Behandlungsfehler vorliegen muss. Es ging in dieser Sache um einen im Jahr 2003 geborenen Kläger, bei dessen Geburt es bei einem Geburtsgewicht von 5.100 g durch eine Schulterdystokie während der vaginalen Entbindung zu einer Schädigung des Plexus brachialis links mit der Folge einer dauerhaften Parese gekommen war. Im Jahr 2006 hatte die Mutter des Klägers ein umfangreiches Gedächtnisprotokoll gefertigt, in welchem sie die Geburt detailliert beschrieb und auch Kritik an der angewandten geburtshilflichen Technik übte. Noch im September 2006 hatten die Prozessbevollmächtigten des Klägers die wesentlichen Teile der Dokumentation aus der stationären geburtshilflichen Behandlung erhalten. Das OLG Koblenz[11] hatte in diesem Fall daher der Mutter des Klägers als dessen Wissensvertreterin die für den Verjährungsbeginn maßgebliche Kenntnis von einem Behandlungsfehler unterstellt. Der BGH hat in seiner Entscheidung die Feststellungen des OLG zur Kenntnis von ärztlichen Behandlungsfehlern jedoch nicht ausreichen lassen. Zwar hätten die Rechtsanwälte des Klägers im August 2007 ärztliche Behandlungsfehler mit hinreichender Deutlichkeit angesprochen, sodass für diese Zeit die erforderliche Kenntnis zu unterstellen sei. Das Berufungsgericht habe aber keine Feststellungen dazu getroffen, ob diese Kenntnis schon im Jahr 2006 vorgelegen habe oder ohne grobe Fahrlässigkeit hätte erlangt werden müssen. Die reine Kenntnis der Abläufe und der Behandlungsunterlagen haben dem BGH mithin für den Verjährungsbeginn nicht gereicht.
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In einer weiteren Entscheidung des BGH vom 26.5.2020[12] in demselben Fall – das OLG Koblenz hatte im Rahmen der erneuten Befassung mit der Sache nach Zurückverweisung grob fahrlässige Unkenntnis der den Kläger vertretenden Anwaltskanzlei in verjährungsrelevanter Zeit unterstellt – hat er es nicht ausreichen lassen, dass der Kanzlei aus der Bearbeitung eines anderen, aber ähnlich gelagerten Falls medizinische Fachkenntnisse unterstellt wurden, weil auch von den Bevollmächtigten nicht verlangt werden könne, Behandlungsunterlagen auf schadenskausale Behandlungsfehler zu überprüfen.
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Der Patient muss aus seiner Laiensicht von einem Behandlungsfehler erfahren haben, der zu dem bei ihm vorliegenden Primärschaden geführt hat. Nicht erforderlich ist es, dass er den Fehler medizinisch zutreffend erkannt hat. Insoweit kommt es weiterhin nicht auf die medizinisch korrekte Bewertung an. Ihm muss aber deutlich geworden sein, dass ein schadenskausales ärztliches Fehlverhalten vorlag.[13]
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Eine jüngere Entscheidung des OLG Hamm[14] verdeutlicht diesen Grundsatz: Die dortige, im Jahr 1993 geborene Klägerin hatte geltend gemacht, dass ihre Mutter mit einer eitrig-fötiden Kolpitis in die beklagte geburtshilfliche Klinik aufgenommen und grob standardwidrig nicht mit Antibiotika behandelt worden sei. Dadurch sei es zu einem Fortschreiten der Infektion und zu einer Frühgeburt gekommen, bevor eine Lungenreifebehandlung ihre volle Wirkung entfalten und sie, die Klägerin,