Handbuch des Verwaltungsrechts. Группа авторов

Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Handbuch des Verwaltungsrechts - Группа авторов страница 120

Жанр:
Серия:
Издательство:
Handbuch des Verwaltungsrechts - Группа авторов

Скачать книгу

Mitglied staaten

      Der Vorrang ist an alle mitgliedstaatlichen Stellen adressiert,[136] sowohl an die Bundes- und Landesgesetzgeber und die Gerichte als auch an die Exekutive und die Gubernative.

IV. Begründung und Tragweite 1. Die unionsrechtliche Position

      28

      Absoluter Vorranganspruch

      Die EU nimmt für ihre eigene Rechtsordnung einen absoluten, umfassenden und unbegrenzten Vorrang vor dem mitgliedstaatlichen Recht in Anspruch. So kommt etwa auch unionsrechtlichem Sekundärrecht Vorrang vor mitgliedstaatlichen Verfassungsbestimmungen zu.[137] Diese Position hat der EuGH wohl schon im Urteil van Gend & Loos, im Anschluss an die Rechtsauffassung der Kommission, vertreten.[138] Allerdings bestand erst im Urteil Costa/ENEL[139], dem „inneren Selbstgründungsakt“[140] der EU (bzw. früheren EWG/EG), die Notwendigkeit, diese Position auch explizit zu machen.

      29

      Effektivität als Begründungsfolie

      Der EuGH reagierte mit diesem Akt beherzter Rechtsfortbildung[141] auf ein bis dahin erhebliches Umsetzungsdefizit des europäischen Rechts.[142] Zur Begründung verweist er darauf, dass die Mitgliedstaaten durch ihre Zustimmung zu den Europäischen Verträgen einen Teil ihrer Hoheitsrechte an die Union übertragen und eine eigene, autonome Rechtsordnung begründet haben.[143] Diese Unabgeleitetheit der Unionsrechtsordnung mag notwendige Bedingung für einen Vorranganspruch sein, hinreichend ist sie jedoch nicht.[144] Für Verordnungen verweist der EuGH weiter auf den heutigen Art. 288 Abs. 2 EUV und die dort angeordnete „allgemeine Geltung“.[145] Abseits von Verordnungen verbleibt zur Begründung aber allein der Verweis des EuGH darauf, dass nur ein einheitlicher Vorrang die Funktionsfähigkeit der Union, die gleichmäßige Umsetzung in allen Mitgliedstaaten und damit auch die „Gleichheit vor dem (europäischen) Gesetz“[146] sicherstellt.[147] Dieses Argument ist in der Sache plausibel. Es ist indes nicht zwingend, aus diesem systeminternen Argument einen Anspruch auf einen rechtsordnungsübergreifenden Vorrang vor dem mitgliedstaatlichen Recht herzuleiten.[148] In der Theorie verbleibt die Möglichkeit der Mitgliedstaaten, die Einschätzung des EuGH nicht zu teilen und das Verhältnis in der nationalen Rechtsordnung anders zu regeln.[149] Bei Lichte besehen erweist sich der durch die Union postulierte Vorrang somit eher als pragmatisch motiviert (Funktionsfähigkeit der EU) denn als dogmatisch fundiert.[150]

      30

      Art. 4 Abs. 2 EUV als Einfallstor?

      Zuletzt hat der EuGH kleine Flexibilitätsreserven aufgezeigt. Insbesondere hat der Gerichtshof mehrfach betont, dass die Union die nationale Identität gemäß Art. 4 Abs. 2 EUV achte.[151] Dies kann ein unionsrechtlich eröffnetes Einfallstor für mitgliedstaatliche Besonderheiten sein, denen in der einzelfallbezogenen Abwägung Vorrang gegenüber dem Dogma der einheitlichen Anwendung des Unionsrechts[152] eingeräumt werden kann.[153] So anerkannte der EuGH etwa das Adelsaufhebungsgesetz als Teil des österreichischen Republikprinzips[154] und begriff Regelungen zum Schutz der Amtssprache[155] und zur innerstaatlichen Kompetenzverteilung[156] als Teile nationaler Identität im Sinne des Art. 4 Abs. 2 EUV. Zuletzt billigte er eine Abweichung von der zur wirksamen Vollziehung des Unionsrechts eigentlich gebotenen Nichtanwendung nationaler Verjährungsregeln, da damit ein Verstoß gegen das – in der italienischen Verfassung verankerte und sodann als Grundsatz des Unionsrechts vom EuGH internalisierte – Gesetzmäßigkeitsprinzip als Grundprinzip des Strafverfahrens im Raum stand.[157] Es bleibt abzuwarten, ob sich diese Rechtsprechungslinie einer mitgliedstaatlichen margin of appreciation[158] – rechtlich eine produktive Verarbeitung des mitgliedstaatlichen Rechts innerhalb des Unionsrechts,[159] in der Sache freilich durchaus eine partielle Zurücknahme des Vorranganspruchs[160] – fortsetzen wird.

2. Die staatsrechtliche Position

      31

      Verortung im Zustimmungsgesetz

      Die Mitgliedstaaten im Allgemeinen[161] und Deutschland im Besonderen erkennen den Vorrang des Unionsrechts grundsätzlich an,[162] in Deutschland insbesondere auch gegenüber dem Verfassungsrecht.[163] Seinen Rechtsgrund findet er in Art. 23 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Zustimmungsgesetz.[164] Unterschiedlich bewertet wird, ob die deutsche Rechtsordnung damit bereits selbst einen Vorrang des Unionsrechts konstitutiv anordnet[165] oder aber – richtigerweise – sich bloß der unionalen Rechtsordnung öffnet und dieser die Möglichkeit verleiht, ihrer Rechtsordnung Vorrang zu verleihen.[166]

      32

      Verfassungsrechtliche Integrationsgrenzen

      Die vom BVerfG vertretene staatsrechtliche Konzeption des Vorrangs liegt nahe, liefe eine vorbehaltlose Anerkennung eines Vorrangs doch Gefahr, die souveräne Staatlichkeit als solche in Frage zu stellen und überschritte damit die Grenze des gemäß Art. 23 Abs. 1 S. 3, 79 Abs. 3, 146 GG ohne einen Akt des pouvoir constituant (Verfassungsablösung) Zulässigen. Daher ist die Bezeichnung als relativer Vorrang zutreffend.[167] Die Grenzen dieses relativen Vorrangs liegen einerseits in der die Inkorporation des Unionsrechts ermöglichenden Verfassungsbestimmung, sprich der Struktursicherungsklausel des Art. 23 Abs. 1 GG, der die EU erstens insbesondere auf die Gewährung eines „im Wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutzes“ verpflichtet (Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG) und zweitens die Übertragung von Hoheitsrechten verbietet, auf deren Grundlage Gegenstände des Art. 79 Abs. 3 GG beeinträchtigt werden können (Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG).[168] Andererseits kann die demokratische Legitimation und damit ein Vorranganspruch unionalen Handelns nur so weit reichen, wie der EU durch Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG i. V. m. dem einfach-gesetzlichen Zustimmungsgesetz entsprechende Hoheitsrechte übertragen wurden.[169] Diese Kautelen binden die deutschen Verfassungsorgane als Teil ihrer Integrationsverantwortung[170] und limitieren damit verfassungsrechtlich a priori die Öffnung der nationalen Rechtsordnung für das Unionsrecht.[171]

      33

      Art. 38 Abs. 1 GG als prozessuales Vehikel

      Die verfassungsrechtlich angelegten, als Vorranggrenze wirkenden Integrationsvorbehalte werfen die Frage nach ihrer gerichtlichen Durchsetzbarkeit auf. Das BVerfG geht hier zumindest im Hinblick auf Gesetzesrecht auf Grundlage des Rechtsgedankens des Art. 100 Abs. 1 GG von seiner Monopolkompetenz aus.[172] Insofern liegt zunächst eine Geltendmachung im Wege der abstrakten Normenkontrolle, mittelbar im Wege des Organstreitverfahrens oder – durch die Geltendmachung der Menschenwürdegarantie oder grundrechtlicher Freiheiten – der Individualverfassungsbeschwerde auf der Hand. Daneben können die Integrationsvorbehalte auch durch Einzelne über den materiell interpretierten Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG als Scharniernorm und „grundrechtsgleiches Recht auf Mitwirkung an der demokratischen Selbstherrschaft des Volkes“[173] im Wege der Verfassungsbeschwerde gerichtlich effektuiert werden.[174] Dieser bereits im Maastricht-Urteil[175] angelegte Ansatz über Art. 38 Abs. 1 GG ist zu begrüßen; er eröffnet einen zur Verteidigung staatlicher Souveränität und Verfassungsidentität (insbesondere Demokratie) unverzichtbaren Kontrollzugriff und im Übrigen die, gerade in bestimmten politischen Diskussionen (sog. „Blitzgesetze“, Große Koalition etc.), im Interesse von pluralem Diskurs, retardierender Reflektion und Transparenz akzeptanzfördernde und systemstabilisierende Möglichkeit eines „Verfassungsbeschwerde-Plebiszits“ mit direkt-demokratischer Surrogatfunktion.[176]

      34

Скачать книгу