Handbuch des Verwaltungsrechts. Группа авторов
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3. Rechtsvergleichender Seitenblick: Die Position der anderen Mitgliedstaaten
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Grundsätzliche Anerkennung des Vorrangs
Der Vorrang des Unionsrechts wird jedenfalls im Hinblick auf unterverfassungsrechtliches Recht in allen Mitgliedstaaten anerkannt.[225] Dies vermag insoweit kaum zu überraschen, als mit Ausnahme der sechs Gründungsmitglieder alle Mitgliedstaaten schon bei ihrer Entscheidung zum EU-Beitritt von dem Vorranganspruch der Union als Teil des acquis communautaire ausgehen mussten.[226] In einigen mitgliedstaatlichen Verfassungen wird dieser Vorrang explizit geregelt.[227] Zumeist aber wird die Akzeptanz des Vorrangs implizit auf eine verfassungsrechtliche Regelung gestützt, die die Übertragung von Hoheitsrechten auf die EU als supranationale Organisation ermöglicht.[228]
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Divergierende Ansichten
Unterschiede ergeben sich allerdings im Hinblick auf den Vorrang des Unionsrechts gegenüber dem nationalen Verfassungsrecht. In einigen Mitgliedstaaten wird die Auffassung der Union, dass dem Unionsrecht auch gegenüber dem Verfassungsrecht im Kollisionsfall Vorrang zukommt, vollumfänglich geteilt. Dies gilt für die Niederlande[229], daneben etwa auch – kraft spezifischer Verfassungsbestimmung – in Zypern[230] und – mit zunehmenden Vorbehalten – in Estland.[231] Demgegenüber betonen Mitgliedstaaten wie Litauen und Polen zwar ausdrücklich, dass sie soweit als möglich eine unionsrechtskonforme Lösung anstreben. Aufgrund des explizit normierten, umfassenden Vorrangs der litauischen (Art. 7) und der polnischen (Art. 8 Abs. 1) Verfassung dürfte hier jedoch im Konfliktfall der Verfassung Vorrang eingeräumt werden.[232]
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Mittelweg: Residualkompetenzen für besondere Verfassungsinhalte
Die meisten Mitgliedstaaten verfolgen einen Mittelweg. Bei Anerkennung eines grundsätzlichen Vorrangs der Unionsrechtsordnung schließen sie einen Kernbereich ihrer Verfassungsordnung davon aus und nehmen – vielfach unter Rezeption der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung[233] – insoweit (verfassungs-)gerichtlich wahrgenommene Kontrollkompetenzen in Anspruch. So zählen etwa parallel zur deutschen Solange-II-Rechtsprechung in Italien[234] und Tschechien[235] die „unveräußerlichen Menschenrechte“ zum Vorbehalt, anhand derer eine Kontrolle von Unionsrechtsakten praktiziert wird. Daneben machen zahlreiche Staaten einen Vorbehalt für ihre nationale Identität geltend, wobei die Schutzkonzepte recht unterschiedlich ausgestaltet sind und regelmäßig nicht an einen normativ fixierten, integrationsfesten Kern der Verfassung anknüpfen.[236] So umfasst die nationale Identität in Österreich die Grundprinzipien der Bundesverfassung, für deren Änderung es einer Volksabstimmung bedürfte[237], und in Spanien die „grundlegenden Verfassungsstrukturen“ und das „System der Grundwerte und -prinzipien“[238]. In Frankreich wird zwar einerseits die Umsetzungsverpflichtung betont, die in Art. 88-1 der französischen Verfassung verortet wird. Zugleich werden aber auch hier jedenfalls vom Conseil constitutionnel[239] Regeln und Prinzipien der identité constitutionnelle de la France als unionsrechtlich unantastbar begriffen.[240] Eine explizite Kontrolle eines Identitätsvorbehalts behält sich das tschechische Verfassungsgericht insbesondere im Hinblick auf die – gemäß Art. 9 Abs. 2 der tschechischen Verfassung einer Verfassungsänderung entzogenen – „wesentlichen Erfordernisse des demokratischen Rechtsstaates“ vor.[241] Eine gerichtliche Kontrolle erfolgt ferner auch – allerdings inhaltlich eher vage[242] – in Italien im Rahmen der controlimiti für die „Grundprinzipien der Verfassung“[243] und in Ungarn für eine nicht abschließend bestimmte Liste von Teilen der vorverfassungsrechtlichen ungarischen Identität.[244] Der belgische Cour constitutionnelle hat die identité nationale inhérente aux structures fondamentales, politiques et constitutionnelles zumindest als potentielle Grenze europäischer Integration skizziert.[245]
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Ultra-vires-Kontrolle durch nationale Gerichte
Schließlich findet auch die bundesverfassungsgerichtliche Ultra-vires-Rechtsprechung[246] in zahlreichen Mitgliedstaaten ein Äquivalent, etwa in Dänemark[247], Polen[248] und Tschechien[249]. Gerade das tschechische Verfassungsgericht geht dabei insofern weiter als das BVerfG, als es eine besondere Evidenz oder Gewichtigkeit der Kompetenzüberschreitung nicht für erforderlich hält. Das tschechische Verfassungsgericht war es auch, das eine Entscheidung des EuGH erstmals für ultra vires und in der Folge unbeachtlich erklärte.[250] Zuletzt hat sich der dänische Oberste Gerichtshof geweigert, einem EuGH-Urteil nachzukommen, das die vorrangige Berücksichtigung des (ungeschriebenen) allgemeinen Rechtsgrundsatzes eines Verbots der Altersdiskriminierung in einem Rechtsstreit zwischen zwei Privatparteien gefordert hatte.[251]
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Relativierungen
Die Mitgliedstaaten haben damit ihre Kontrollvorbehalte nicht nur als präventiv wirkendes Damoklesschwert in der Hinterhand gehalten, sondern zuletzt auch tatsächlich einen offenen Konflikt gesucht. Dies kann selbstverstärkende Effekte zur Folge haben. Zugleich darf dieser clash of courts nicht überbewertet werden. Befördert durch die Internalisierung nationaler Wertungen im Rahmen unionsrechtlicher Rücksichtnahmeklauseln (Art. 4 Abs. 2 und 3 EUV) auf der einen Seite und des verfassungsrechtlichen Auslegungsgrundsatzes der Unionsrechtsfreundlichkeit sowie der Vorlagepflicht (Art. 267 AEUV) auf der anderen Seite sind gegenseitige Bemühungen um Kooperation und Konvergenz unübersehbar. Wirkliche Konfliktsituationen sind höchst selten – auch das ist ein Grund für die hohe Aufmerksamkeit, die diese erlangen.[252]
4. Folgerungen: Unauflösbarer Dissens und pragmatische Konfliktbewältigungsstrategien
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Produktive Kraft einer Schwebelage
In der Sache prägt weitgehende Akzeptanz des Vorrangs des Unionsrechts das Bild. Aufgrund der divergierenden Begründungen bleibt aber ein Spannungsverhältnis zwischen den miteinander unversöhnlichen Ansätzen eines umfassenden Vorranganspruchs des Unionsrechts und der in der mitgliedstaatlichen Souveränität wurzelnden Ansprüche nationalen Rechts bestehen. Auswirkungen hat diese Divergenz hauptsächlich in der Frage, ob die mitgliedstaatlichen Gerichte die Letztentscheidungsgewalt über Ausmaß und Grenzen des Vorrangs behalten.[253] Der „Schwebelage“[254] lassen sich aber auch positive Aspekte abgewinnen: Sie sorgt für produktive Reibungen, die die unionalen und mitgliedstaatlichen Kompetenzen permanent austarieren. Überdies wird so eine effektive (mitgliedstaatliche) Kontrolle der Einhaltung der Grenzen der Unionskompetenzen gewährleistet. Dies zeigte sich früh an den Wirkungen der Solange (I)-Judikatur auf die Entwicklung des EU-Grundrechtsschutzes[255] und zuletzt etwa daran, dass es nicht zuletzt ein Appell des BVerfG[256] gewesen sein dürfte, der den EuGH veranlasst hat, bei der Auslegung von Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRCh nach der vorausgegangenen, richterrechtlich contra legem forcierten EU-Kompetenzerweiterung[257] teilweise wieder zurückzurudern.[258] Man kann diesem Zustand eines checks and balances somit auch eine präventive Warnfunktion, Impulsfunktion sowie „befruchtend[e] und befriedend[e]“[259] Wirkung beimessen, die eine konstruktiv-kooperative[260] und maßvolle Fortentwicklung des europäischen Rechts(schutz)systems befördern.[261]
1. Recht und Pflicht zur unionsrechtskonformen