Handbuch des Verwaltungsrechts. Группа авторов
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Einführung eines Vorlagerechts?
Die Verwaltung wird somit zu einer „Richterin“ über die Vereinbarkeit von nationalem Recht mit Unionsrecht. Überdenkenswert erscheint, dass die (juristisch ausgebildeten) Gerichte durch eine Vorlage an den EuGH Auslegungsschwierigkeiten ausräumen können, der Verwaltung eine solche Vorlage aber nicht möglich ist.[343] Um einer „anarchischen“ administrativen Nichtanwendungspraxis vorzubeugen, aber auch angesichts der Tatsache, dass die Verwaltung durch den nationalen Amtshaftungsanspruch (bei rechtswidriger Nicht-Anwendung des nationalen Rechts) und den unionsrechtlichen Staatshaftungsanspruch (bei rechtswidriger Nicht-Anwendung des Unionsrechts) einem doppelten Haftungsrisiko ausgesetzt ist, könnte de lege ferenda ein Vorlagerecht der nationalen Verwaltung(sspitze) an den EuGH zu erwägen sein.[344]
II. Primärrechtswidrige Sekundärrechtsakte
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Verwerfungsmonopol des EuGH
Andere Grundsätze gelten für primärrechtswidriges EU-Sekundärrecht: Insofern besteht keine dezentralisierte Verwerfungs- oder Nichtanwendungskompetenz mitgliedstaatlicher Stellen, sondern ein Verwerfungsmonopol des EuGH,[345] das insbesondere durch das Vorabentscheidungsverfahren (Art. 267 AEUV) und die Nichtigkeitsklage (Art. 263 f. AEUV) effektuiert wird. Abgesehen von Fällen der ipso iure-Nichtigkeit bei offenkundiger und schwerwiegender Unionsrechtswidrigkeit[346] besteht für nationale Behörden und Gerichte stets eine Pflicht zur Umsetzung und Anwendung des Sekundärrechts[347] – und in der Folge eine Nichtanwendungs- bzw. Verwerfungspflicht für das nationale Recht. Eine anerkannte Ausnahme besteht in Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes, wenn die Zweifel an der Primärrechtskonformität des Sekundärrechts erheblich sind, die Entscheidung dringlich ist, bei Nicht-Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes ein schwerer, irreparabler Schaden droht und das Unionsinteresse am Vollzug des Unionsrechts angemessen berücksichtigt wird.[348]
F. Einwirkungen des deutschen Rechts auf das Unionsrecht
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Öffnungsklauseln und indirekte Einwirkungen
Das Verhältnis von Unionsrecht und nationalem Recht darf nicht als Einbahnstraße verstanden werden. Vielmehr handelt es sich um ein reziprokes Verhältnis. Durch Normen, wie z. B. Art. 4 Abs. 2[349], Art. 6 Abs. 3 EUV[350], Art. 340 Abs. 2 AEUV und Art. 52 Abs. 4 GRCh, rezipiert die EU nationale Verfassungsinhalte. Zudem ist das deutsche Recht, auch das deutsche Verwaltungsrecht, Quelle für die Herausbildung allgemeiner Rechtsgrundsätze und mitunter Inspiration und Vorbild für unionale Rechtsetzung.[351] Dies gilt auch für das deutsche Schrifttum sowie die Rechtsprechung der deutschen Verwaltungs- und Verfassungsgerichte und deren Einfluss insbesondere auf die Judikatur des Gerichtshofs der EU bzw. die Schlussanträge der Generalanwältinnen und -anwälte. Im Rahmen des Vollzugs von Unionsrecht wenden nicht nur Unionsorgane EU-Recht (direkter Vollzug) und mitgliedstaatliche Behörden nationales Recht an (indirekter Vollzug), sondern ausnahmsweise auch Unionsorgane (z. B. EZB) mitgliedstaatliches Recht.[352] Schließlich entfalten über das im deutschen Rechtssystem ausgebildete Personal der EU-Institutionen, die deutschen Abgeordneten des Europäischen Parlaments, die deutschen Richterinnen und Richter an den europäischen Gerichten und nicht zuletzt den Austausch zwischen und die rechtsvergleichenden Forschungen von Rechtswissenschaftlerinnen und Rechtswissenschaftlern unterschiedlicher Nationalitäten auch deutsche Rechtsvorstellungen Prägewirkung auf das Unionsrecht.
G. Aktuelle Entwicklungslinien und Ausblick
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Einheit und Effektivität des EU-Rechts
Dem EuGH ist beizupflichten, dass die umfassenden Einwirkungen des Unionsrechts auf das mitgliedstaatliche Recht zu einem „strukturierten Netz miteinander verflochtener Grundsätze, Regeln und Rechtsbeziehungen geführt [haben], das die Union selbst und ihre Mitgliedstaaten wechselseitig sowie die Mitgliedstaaten untereinander bindet“[353]. Der „rote Faden“ aller Grundsätze zum Verhältnis von Unionsrecht und deutschem (bzw. sonstigem mitgliedstaatlichen) Recht ist dabei das Ziel der Sicherstellung einer einheitlichen und effektiven Umsetzung des Unionsrechts[354] und damit die Verwirklichung der Integration durch Schaffung einer echten Rechtseinheit.[355] Dieser „Faden“ wurde vom Gerichtshof schon frühzeitig (van Gend & Loos, Costa/ENEL) und bis heute immer wieder entschlossen, dabei die Grenzen der Rechtsfortbildungskompetenz teilweise sehr weit ausschöpfend, durch die Unionsrechtsordnung gezogen und hält diese zusammen.[356] Der Gerichtshof ist Motor, Garant und Hüter der Einheit und Effektivität des EU-Rechts und damit der Europäischen Rechts union.
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Gefährdungen durch Fliehkräfte
In Zukunft wird der EuGH in dieser Funktion wohl noch mehr gebraucht werden: Nicht nur der Brexit[357], sondern vor allem die Rechtsstaatskrisen in Polen und Ungarn[358] zeigen die desintegrativen Fliehkräfte. Dass Polen Richterinnen und Richter für die Befolgung eines EuGH-Urteils disziplinarisch ahndet,[359] ist augenfälliger Ausdruck, dass nicht mehr nur der Vorrang des Unionsrechts, sondern gar die gemeinsamen Werte der EU (Art. 2 EUV) durch rechtsstaatliche Fehlentwicklungen, Nationalismus, Populismus und Entsolidarisierung (insbesondere im Umgang mit den globalen Migrationsströmen in die EU) vermehrt in Frage gestellt werden. Die Berufung auf die nationale Identität wird zum Teil zur missbrauchten Chiffre für „illiberale Demokratie“ oder offene Ablehnung europäischer Rechtsetzung und Rechtsprechung.[360] Dies ist eine ernste Gefahr für den Fortbestand der Rechtsunion – denn der Vorrang im Allgemeinen und die Werte der EU im Besonderen beruhen auf der Akzeptanz der Mitgliedstaaten.
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Durchsetzungsschwächen
Die EU hat (bislang) kaum Möglichkeiten zur zwangsweisen Durchsetzung ihres Rechts.[361] Art. 7 EUV erweist sich als „stumpfes Schwert“. Die Koppelung von EU-Subventionen (Fonds) an die Einhaltung des Unionsrechts (insbesondere rechtsstaatlicher Grundprinzipien wie die Unabhängigkeit der Justiz) ist beschlossen,[362] derzeit sind aber noch Klagen gegen die Verordnung beim EuGH anhängig.[363] Solange dies so bleibt, kommt dem Vertragsverletzungsverfahren unter den Sanktionsinstrumenten und folglich der Kommission[364] und dem EuGH[365] (vgl. Art. 258, 260 AEUV) weiterhin die Schlüsselrolle für die Wahrung des Rechts in der EU zu. Der EuGH hat mit der Operationalisierung der Werteklausel aus Art. 2 EUV[366] über Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV (i. V. m. Art. 47 GRCh) seine Rolle als Grundrechtegericht endgültig gefunden und auf konsequente Weise eine Phase der Neo-Konstitutionalisierung der EU als Werteunion[367] und der Rückbesinnung auf die bisherigen, seit Jahrzehnten bewährten Narrative der europäischen