Handbuch des Verwaltungsrechts. Группа авторов
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Parallele: Rechtskraft von Urteilen
Eine ähnliche Rechtsfrage tritt im Hinblick auf rechtskräftige Urteile auf. Der EuGH betont insoweit, dass die Modalitäten der Rechtskraft der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten unterfallen und daher nur an den Maßstäben der Äquivalenz und Effektivität gemessen werden können.[307] Insbesondere der Grundsatz der effektiven Umsetzung des Unionsrechts kann im Einzelfall (vor allem im Beihilferecht zur Sicherung eines unverfälschten Wettbewerbs und zur Wahrung der Kompetenz der Kommission als Hüterin des Beihilfeaufsichtsverfahrens) ausnahmsweise die Durchbrechung der nach nationalem Recht angeordneten Rechtskraft gebieten.[308] Grundsätzlich verlangt er eine solche Durchbrechung allerdings nicht, da die Rechtssicherheit auch ein Grundsatz des Unionsrechts ist.[309]
3. Leistungskonstellation: Pflicht zur positiven Rechtsgestaltung
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Fortbestehende Umsetzungsverpflichtung
Eine aus dem Vorrang resultierende Unanwendbarkeit unionsrechtswidriger Rechtsakte entbindet den nationalen Gesetzgeber nicht von der allgemein aus Art. 4 Abs. 3 EUV und bei Richtlinien speziell aus Art. 288 Abs. 3 AEUV folgenden[310] Pflicht, seine Rechtslage unionsrechtskonform anzupassen.[311] Nur so können Unklarheiten beseitigt und der Rechtssicherheit hinreichend Rechnung getragen werden.[312] Die Unanwendbarkeitsdoktrin stößt ferner an ihre Grenzen, wenn zwar kein unionsrechtswidriges nationales Recht besteht, aber ein Mitgliedstaat Unionsrecht nicht oder nicht hinreichend umgesetzt hat. In solchen Fällen tritt das Unionsrecht an die Stelle nationalen Rechts, auch dies entbindet aber nicht von der Umsetzungsverpflichtung.
4. Ausnahmsweise: Weitergeltung unionsrechtswidrigen nationalen Rechts
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Zwingende Erfordernisse
In bestimmten Konstellationen stellt sich die Frage einer zeitlich beschränkten Weitergeltung unionsrechtswidrigen nationalen Rechts. Dies ließe sich – insbesondere zur Gewähr von Rechtssicherheit sowie des Schutzes öffentlicher Interessen – etwa annehmen, wenn eine Unanwendbarkeit zu einem Zustand führte, der von dem von der Unionsrechtsordnung vorgesehenen Zustand noch weiter entfernt wäre[313], wenn also durch die Nichtanwendung eine „inakzeptable Gesetzeslücke“ entstünde.[314] Der EuGH drängt in dieser unionsrechtlich zu entscheidenden[315] Frage zuvörderst darauf, dass die nationalen Gerichte – etwa in Form von Richterrecht – Lösungen finden, die einen Vorrang des Unionsrechts durchsetzen, ohne zugleich das öffentliche Interesse am Fortbestand einer Regelung übermäßig einzuschränken.[316] Scheidet dies aus, hat der EuGH die vorübergehende Anwendung unionsrechtswidrigen Rechts bis zur Schaffung einer unionsrechtskonformen Rechtslage nicht kategorisch ausgeschlossen, allerdings auf „Ausnahmefälle“ aus „zwingenden Erwägungen der Rechtssicherheit“ begrenzt.[317] So konnten im Fall Winner Wetten auch verfassungsrechtliche Verpflichtungen keine übergangsweise Anwendung des unionsrechtswidrigen nationalen Rechts rechtfertigen, werde doch ansonsten die einheitliche Geltung und Wirksamkeit des Unionsrechts beeinträchtigt.[318] Die Rechtssicherheit scheint gleichwohl nicht der einzige denkbare Rechtfertigungsgrund für eine mögliche Relativierung des Anwendungsvorrangs zu sein. So hat der EuGH zuletzt im Hinblick auf die Verwirklichung des Umweltschutzes als Ziel der Union – unter engen Voraussetzungen – eine befristete Fortgeltung nationalen Rechts ermöglicht.[319] Auch die Stromversorgungssicherheit hat er als möglichen Grund benannt.[320]
I. Unionsrechtswidrige Normen des nationalen Rechts
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Keine Nichtanwendungskompetenz kraft Rechtsbindung
Auch das (nach einem weiten Begriffsverständnis) unmittelbar anwendbare Unionsrecht bindet als Teil des Rechts nach Art. 20 Abs. 3 GG Gerichte und Behörden.[321] Dies erhellt aber noch nicht, wie diese mit etwaigen Konflikten zwischen nationalem und unionalem Recht umzugehen haben.
1. Fachgerichte
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Nationale Gerichte als funktionale Unionsgerichte
Die nationalen Gerichte sind – unabhängig von Rechtsweg und Instanz – verpflichtet, die volle Anwendung des Unionsrechts und den Schutz der Rechte, die den Einzelnen aus ihm erwachsen, zu gewährleisten.[322] Sie sind mithin gehalten, im Rahmen der Auslegung und Anwendung nationalen wie Unionsrechts stets auf die Sicherstellung der Einheit und Wirksamkeit des Unionsrechts hinzuwirken.[323] Insoweit fungieren sie als Unionsgerichte.[324] Im Falle einer Kollision müssen sie unionsrechtswidrige Normen des nationalen Rechts unmittelbar unangewendet lassen.[325] Dazu müssen sie – wie sich mittelbar aus Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV[326] und der Vorlagemöglichkeit im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens (Art. 267 Abs. 2 AEUV)[327] ergibt – weder eine entsprechende Entscheidung des Normgebers noch ein die Entscheidung verzögerndes verfassungsgerichtliches Verfahren abwarten.[328] Instanzgerichte können[329], letztinstanzliche Gerichte müssen[330] – mit Ausnahme einer offensichtlichen, keine vernünftigen Zweifel zulassenden Unionsrechtswidrigkeit (acte clair) bzw. einer durch den Gerichtshof bereits geklärten Rechtsfrage (acte éclairé) [331] – allerdings zur Stärkung der einheitlichen Anwendung des Unionsrechts zuvor ein Vorabentscheidungsverfahren beim EuGH anstrengen.
2. Behörden
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Nichtanwendung oder „Verwerfung“?
Aufgrund der umfassenden Bindung der Mitgliedstaaten müssen nach unionsrechtlicher Position auch Behörden unionsrechtswidrige nationale Normen selbstständig außer Anwendung lassen (Nichtanwendungspflicht).[332] Dagegen lassen sich freilich gewichtige Argumente anführen: Praktisch motiviert ist der Einwand, dass eine solche Nichtanwendungspflicht das Risiko einer höchst unterschiedlichen Behördenpraxis birgt, die von den individuell variierenden Unionsrechtskenntnissen und der Verve des Amtswalters abhängt.[333] Aus rechtlicher Sicht problematisch erscheint, dass eine Nichtanwendung einer Verwerfung im Einzelfall zumindest faktisch gleichkommt. Die Verwerfungskompetenz ist aber rechtlich ausdrücklich bei den Aufsichtsbehörden und Gerichten, für Parlamentsgesetze beim BVerfG monopolisiert. Anders als im nationalen Recht steht dies einer Nichtanwendungskompetenz im Hinblick auf das Unionsrecht gleichwohl nicht entgegen. Denn die mitgliedstaatliche Verpflichtung zur effektiven Umsetzung des Unionsrechts geht insoweit auch den nationalen Zuständigkeiten vor.
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Nichtanwendungspflicht