Handbuch des Verwaltungsrechts. Группа авторов
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Vorrang der Auslegung
Für die Mitgliedstaaten, ihre Gerichte und Behörden ergibt sich aus Art. 4 Abs. 3 EUV[262] die Pflicht, das nationale Recht im Allgemeinen und unbestimmte Rechtsbegriffe im Besonderen unionsrechtskonform, insbesondere richtlinienkonform,[263] auszulegen.[264] Diese Pflicht betrifft sowohl nationales Recht, mit dem Unionsrecht umgesetzt wird, als auch alle anderen Akte nationalen Rechts, die inhaltliche Bezüge zu einem Unionsrechtsakt aufweisen.[265] Die Möglichkeit unionsrechtskonformer Auslegung ist dabei zur Schonung der nationalen Souveränität gegenüber der strikten Anwendung des Vorrangprinzips insofern vorrangig,[266] als sie nicht nur der Durchsetzung des Vorrangs des Unionsrechts, sondern zugleich dem Erhalt (favor legis) und der Anwendbarkeit des mitgliedstaatlichen Rechts dient.[267] Konkret ist unter mehreren möglichen Auslegungen also diejenige bzw. eine derjenigen zu wählen, die dem Unionsrecht – unter Berücksichtigung seines Wortlauts, des ihm zugrundeliegenden Zwecks und seiner Entstehungsgeschichte[268] – entspricht.[269]
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Rechtsfortbildung und ihre Grenzen
Im Falle von Lücken des nationalen Rechts kann ein Gericht dabei auch zu einer gesetzesimmanenten Rechtsfortbildung berufen sein.[270] Dabei vermag allerdings auch das Unionsrecht nicht die Grenzen der (nationalen) Methodik zu überspielen. In der Folge hat die Rechtsprechung kein Mandat, sich aus unionsrechtlichen Erwägungen entgegen der deutschen[271] Praxis über den ausdrücklich entgegenstehenden Wortlaut,[272] ggf. auch eine eindeutig abweichende Entstehungsgeschichte der Norm, – contra legem – hinwegzusetzen.[273] Die Grenzlinie zwischen Auslegung und Außer-Anwendung-Lassen im Rahmen des Vorrangs ist damit freilich in hohem Maße von der Flexibilität der Formulierung des nationalen Rechts abhängig.[274]
a) Anwendungsvorrang statt Geltungsvorrang
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Unanwendbarkeit ipso iure
Ist eine unionsrechtskonforme Auslegung nicht möglich, so muss dem Vorrang des Unionsrechts zur Durchsetzung verholfen werden. Das Unionsrecht begnügt sich insoweit nicht mit einer Verpflichtung zur Aufhebung unionsrechtswidrigen Rechts. Es wirkt vielmehr insofern selbst auf die nationale Rechtsordnung ein, als entgegenstehendes Recht „ohne weiteres“[275], das heißt ipso iure und ohne Aktivierung nationaler Mechanismen zur Aufhebung, „unangewendet“[276] bleiben muss. Die Reichweite bestimmt sich dabei nach der Kollision: Dies kann zur Konsequenz haben, dass eine mitgliedstaatliche Norm nur in bestimmten Konstellationen zurückzustellen ist[277] oder auch nur Teile einer Norm oder einzelne Tatbestandsmerkmale unangewendet gelassen werden können,[278] soweit damit einerseits dem Unionsrecht zur effektiven Durchsetzung verholfen wird und andererseits die derart verbleibende Restregelung dem (mutmaßlichen) Willen des nationalen Gesetzgebers entspricht.[279]
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Anwendungs- statt Geltungsvorrang
Zur Durchsetzung dieses Vorrangs verlangt das Unionsrecht keinen Geltungsvorrang, der mitgliedstaatliches Recht bricht.[280] Dafür fehlte dem EuGH auch die Kompetenz:[281] Hat der EuGH noch nicht einmal das Mandat, über die Vereinbarkeit einer nationalen Regelung mit dem Unionsrecht zu befinden,[282] kann er erst recht nicht über ihre Gültigkeit befinden.[283] Auch das deutsche Recht sieht – obwohl dies möglich wäre[284] – keinen Geltungsvorrang des Unionsrechts vor. Dies führt vor dem Hintergrund des (politischen) Interesses an der Wahrung der mitgliedstaatlichen Souveränität[285] und an der Vermeidung einer Anerkennung einer hierarchischen Unterordnung des mitgliedstaatlichen unter das Unionsrecht zur einhelligen Auffassung der Annahme eines Anwendungsvorrangs: Läuft mitgliedstaatliches Recht dem Unionsrecht zuwider, so wird es nicht derogiert, sondern suspendiert. Unterschiedlich beantwortet wird, ob diese Rechtsfolge der Unanwendbarkeit erst im Einzelfall[286] oder abstrakt für die betreffende Rechtsnorm eintritt[287]. Jedenfalls hat sie im konkreten Fall außer Anwendung zu bleiben. In der Sache führt der Anwendungsvorrang regelmäßig zum selben Ergebnis wie ein Geltungsvorrang,[288] „schonender“ ist er regelmäßig nur für die „nationale Empfindlichkeit“[289]. Ein Unterschied liegt aber in der fehlenden Endgültigkeit: Mitgliedstaatliches Recht lebt wieder auf, sofern und soweit die Kollisionslage wegfällt,[290] was allerdings selten praktisch relevant werden dürfte.[291] Wichtiger ist daher, dass der Anwendungsvorrang die Wirksamkeit des mitgliedstaatlichen Rechts erhält. Dieses bleibt vollumfänglich anwendbar, wo der Anwendungsbereich des Unionsrechts nicht eröffnet ist.[292] Bei einem Geltungsvorrang wäre eine solche „Teilwirksamkeit“ einer Norm für den nicht unionsrechtlich überlagerten Bereich nicht in allen Konstellationen denkbar.
b) Einschränkung des Unanwendbarkeitsdogmas bei indirekten Kollisionen
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Effektivitätsgebot als Prüfstein
Bei indirekten Kollisionen wird teilweise vertreten, dass hier bloße Rahmenbedingungen unionsrechtlich vorgegeben seien, sodass ein strikter Vorrang nicht bestehe[293] oder jedenfalls der Vorrang zum abwägungsfähigen Prinzip werde und die effektive Umsetzung des Unionsrechts mit der nationalen Bestimmung im Wege praktischer Konkordanz in einen schonenden Ausgleich gebracht werden müsse.[294] Tatsächlich geht der EuGH hier maßgeblich vom Effektivitätsgrundsatz als Schranke der mitgliedstaatlichen Verfahrensautonomie (Art. 291 Abs. 1 AEUV)[295] aus,[296] bemisst die nationale Regelung also danach, ob und inwieweit sie einer effektiven Umsetzung von Unionsrecht entgegensteht.[297] Dieser Ausgangspunkt ändert aber nichts daran, dass in der Sache dem Unionsrecht vollumfänglich Vorrang einzuräumen ist.[298] Gleichwohl ist zu berücksichtigen, dass dies im Falle indirekter Kollisionen regelmäßig nicht mit der bloßen Nichtanwendung des nationalen Rechts einhergeht. Vielmehr ist das nationale Recht häufig gerade notwendig, um das Unionsrecht überhaupt zu vollziehen, muss aber entsprechend modifiziert werden.
c) Nichtigkeitsdogma bei untergesetzlichen Normen
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Unanwendbarkeit als unions rechtliche Modifikation
Untergesetzliche Normen sind nach überkommener Doktrin im Falle ihrer Rechtswidrigkeit grundsätzlich nichtig.[299] Entsprechend wird auch im Fall der gerichtlichen Verwerfung im Rahmen einer Normenkontrolle ihre Ungültigkeit und damit Nichtigkeit festgestellt (vgl. § 47 Abs. 5 S. 2 VwGO). Dabei ist auch das Unionsrecht Prüfungsmaßstab.[300] Problematisch erscheint, ob auch der Fall der Verdrängung einer Norm kraft Anwendungsvorrangs als Fall der Verwerfung wegen Rechtswidrigkeit gelten muss. Dies ist zu bejahen; als Rechtsfolge ist jedoch nicht die Nichtigkeit, sondern die bloße Unanwendbarkeit der unionsrechtswidrigen Norm auszusprechen.[301]
d) Verwaltungsakte
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Durchbrechung der Bestandskraft als Ausnahme
Für Verwaltungsakte ist die Durchsetzung des Anwendungsvorrangs problematisch, soweit sie in Bestandskraft erwachsen sind und damit der Vorrang die Rechtssicherheit auf die Probe stellt. Der EuGH betonte hier zunächst, dass auch gegenüber bestandskräftigen Verwaltungsakten von einem Vorrang des materiellen Rechts auszugehen sei,[302] verneint allerdings zugleich ausdrücklich, dass daraus stets eine Pflicht folge, bestandskräftige belastende Verwaltungsakte aufzuheben, soweit diese unionsrechtswidrig sind.[303] Denn Rechtssicherheit und Vertrauensschutz sind im Unionsrecht anerkannte allgemeine Rechtsgrundsätze. Nach der in der Rechtssache Kühne & Heitz begründeten und später weiter ausdifferenzierten Rechtsprechung kann eine Verpflichtung der zuständigen Behörde