Zwangsvollstreckungsrecht, eBook. Alexander Bruns
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Man sollte zunächst einmal immer davon ausgehen, dass das positive Recht den verfassungsrechtlichen Anforderungen in ausreichender Weise standhält, und nicht versuchen, anhand vermeintlicher verfassungsrechtlicher Vorgaben die individuelle Vorstellung von der Regelungsbedürftigkeit des Einzelfalles gegen das positive Recht durchzusetzen[31]. Das positive Recht verwirklicht innerhalb eines weiten gesetzgeberischen Gestaltungsspielraums die Konkordanz zwischen der Rechtsschutzgewährleistung zu Gunsten des Gläubigers und den grundrechtlichen Schutzpositionen des Schuldners durch die vom parlamentarischen Gesetzgeber gewählte einfachrechtliche Gestaltung.
7. Effektive Verwertung und Verhältnismäßigkeit
7.17
Das einfache Recht verhindert durch verschleuderungsschützende Normen (Rn. 6.73 ff.) unterwertige Veräußerung. Der Grundsatz effektiver Verwertung ist in seinem Kernbereich Ausfluss des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes und daher verfassungsfest[32]. Der beim Schuldner vernichtete Wert darf nicht ohne Not außer Verhältnis zum Nutzen für den Gläubiger stehen.
7.18
Die Betonung liegt auf den Worten „ohne Not“. Ist nur eine unterwertige Verwertung möglich, so ist der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nicht verletzt, wenn die Rechtsverwirklichung vorgenommen wird, die eben praktisch durchführbar ist. Ein allgemeiner Satz, dass der Nutzen für den Gläubiger größer sein müsse als der Schaden für den Schuldner, gibt keine sinnvolle Konkretisierung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes für vollstreckungsrechtliche Verwertung (s. schon Rn. 6.75). Er lässt zu vieles außer Acht: Begünstigungseffekt für Schuldner mit wertvollem Pfandgut; Benachteiligung des selbst liquidierenden rechtstreuen Schuldners; öffentliches Interesse an Rechtsdurchsetzung und Rechtsbewährung; Rechtsschutzgrundrecht des Gläubigers[33].
a) Parteidisposition über Anfang und Ende als Freiheitsrecht (Art. 2 Abs. 1 GG)
7.19
Man wird – wie im Erkenntnisverfahren[34] – davon auszugehen haben, dass die Disposition des Gläubigers und des Schuldners über Anfang und Ende des Vollstreckungsverfahrens dem Schutzbereich verfassungsrechtlicher Handlungsfreiheit unterfällt (Art. 2 Abs. 1 GG). Der Gläubiger muss nicht vollstrecken und er muss eine begonnene Vollstreckung nicht fortführen (Rn. 6.6), der Schuldner kann freiwillig befriedigen, er kann – nicht muss – vollstreckungshemmende Anträge stellen. Eine Regelung ohne die Freiheit der Entscheidung über das „Ob“ des Verfahrens wäre verfassungswidrig.
b) Gewährleistung eines fairen Verfahrens
7.20
Beide Parteien – Gläubiger wie Schuldner – schützt im Vollstreckungsverfahren wie im Erkenntnisverfahren die grundrechtliche Gewährleistung eines fairen rechtsstaatlichen Verfahrens. Das bedeutet, dass die Vollstreckungsorgane als Organe der Rechtspflege durch Aufklärung der Parteien (§ 139) und entsprechende Verfahrensgestaltung die Parteien vor dem deutlich erkennbaren Fehlgebrauch ihrer Freiheit schützen müssen[35], indem sie auf Möglichkeiten sachdienlicher Rechtswahrnehmung rechtzeitig hinweisen.
Die Problematik des Richtervorbehalts (Art. 92 GG) im Vollstreckungsrecht ist an anderer Stelle abgehandelt (Rn. 8.32 m. Nw.; s.a. Rn. 7.30, 7.33).
2. Gläubigerdisposition über Art und Gegenstand der Vollstreckung und Verhältnismäßigkeit
7.21
Die Gläubigerdisposition über die Vollstreckungsart und den Vollstreckungsgegenstand (Rn. 6.14 ff.) kann dazu führen, dass der Gläubiger eine sehr belastende Vollstreckungsart wählt, z.B. Immobiliarvollstreckung statt Forderungspfändung, oder einen Vollstreckungsgegenstand besonderen Gewichts aussucht, z.B. das Eigenwohnheim des Schuldners und nicht das Mietshaus. Der Versuch, aus dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz der Verfassung das Gebot des schwächsten Eingriffs herzuleiten[36], ist indessen schon im Ansatz verfehlt. Er übersieht, dass der Schuldner stets den schwereren Eingriff verhindern kann, indem er im Wege der erfüllenden Selbstliquidation den geringeren Eingriff wählt. Falls er den Überblick verloren hat, hilft der Hinweis der Vollstreckungsorgane (§ 139) als Ausfluss der grundrechtlichen Gewährleistung eines fairen Verfahrens. Ein „gradus executionis“ (Rn. 6.14 ff.) ist folglich verfassungsrechtlich nicht geboten[37], es sei denn, der Schuldner hat keine Befriedigungsalternative, wie z.B. bei der Handlungs- und Unterlassungsvollstreckung durch Beugemittel (Rn. 7.7 ff., 7.9).
7.22
Umgekehrt ist allerdings die Gläubigerdisposition für die Vollstreckungsarten und die Vollstreckungsgegenstände nicht verfassungsmäßig garantiert. Es stünde dem Gesetzgeber frei, einen gradus executionis einzuführen: Art. 2 Abs. 1 GG gewährleistet nur die Freiheit des Gläubigers, über das „Ob“ der Vollstreckung zu entscheiden. Wie sich die Vollstreckung vollzieht, kann der Gesetzgeber gestaltend festlegen. Eine andere Frage ist, ob die Einführung einer Vollstreckungsreihenfolge rechtspolitisch wünschenswert erschiene; dies ist klar zu verneinen (hierzu Rn. 6.18).
a) Effektiver Rechtsschutz und Vollstreckungsbeschleunigung
7.23
Die verfassungsrechtliche Gewährleistung eines rechtsstaatlichen, fairen Verfahrens verlangt im Vollstreckungsverfahren wie im Erkenntnisverfahren[38] rechtzeitige Rechtsverwirklichung in „angemessener Frist“. Dabei sind die Schwierigkeit der Vollstreckung, das Verhalten des Gläubigers, die Verfahrensführung durch die Vollstreckungsorgane, die Grenzen des Vollstreckungszugriffs beim Schuldner (Rn. 7.2 ff.) und die Bedeutung der Rechtsverwirklichung für den Gläubiger zu berücksichtigen. Der Grundsatz der Vollstreckungsbeschleunigung ist also in seinem Kernbereich verfassungsfest; auch auf verfassungsrechtlicher Ebene führen indessen wie im einfachen Recht (Rn. 6.35) Schuldnerschutzrechte zu seiner Beschränkung, sodass nur in Extremfällen eine Verfassungsbeschwerde wegen Vollstreckungsverzögerung Erfolg haben dürfte (Art. 2 Abs. 1, 14 Abs. 1 GG i.V.m. Rechtsstaatsprinzip).
b) Effektiver Rechtsschutz und Naturalvollstreckung
7.24