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Anzumahnen bleibt die Ausdehnung auf andere Verfahrensfehler verfassungsrechtlicher Qualität.

      7.31

      Wenn man aus Art. 1, 2 Abs. 1, 103 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip die Gewährleistung von Anhörung und Information im Vollstreckungsverfahren erschließt, so erhellt, dass die Parteiöffentlichkeit des Verfahrens (Rn. 6.34) grundsätzlich verfassungsrechtlicher Garantie unterfällt, die nur auf Grund gegenläufiger Schuldnergrundrechte Einschränkungen erleiden darf.

      Gläubiger und Schuldner haben folglich Zugang zu Verfahrensakten (Rn. 6.29). Sie können beim Vollstreckungsverfahren zugegen sein. Soweit indessen das Persönlichkeitsrecht (Art. 1, 2 GG) und das Eigentumsrecht (Art. 14 Abs. 1 GG) des Schuldners reichen, bleibt der Gläubiger ohne gesetzliche Eingriffsnorm ausgeschlossen, falls der Schuldner nicht einwilligt – dies entgegen der ganz h.M. (Rn. 6.34). An eine gesetzliche Regelung wären insoweit unter dem Gesichtspunkt der Erforderlichkeit durchaus strenge Anforderungen zu stellen.

      7.32

      Die Öffentlichkeit des Erkenntnisverfahrens ist zwar – entgegen der h.M. – in ihrem Kern verfassungsrechtlich garantiert als wesentlicher Bestandteil eines rechtsstaatlichen Verfahrens im Namen des Staatsvolkes als des Souveräns[45]. Im Vollstreckungsverfahren (Rn. 6.33) verbieten indessen Schuldnergrundrechte die Öffentlichkeit, welche die Vermögensverhältnisse des Schuldners vielfach offenlegen müsste; Öffentlichkeit wäre oft auch kaum praktikabel. Bei formalisierten Verwertungsverfahren ist Öffentlichkeit zunächst einmal zweckmäßig; man könnte allerdings mit guten Gründen vertreten, dass vor allem bei Zwangsverwertung wertvoller Güter die Öffentlichkeit ein Gebot fairen rechtsstaatlichen Verfahrens sei (§§ 39 ZVG; 816 Abs. 3 ZPO). Sofern sich Abgrenzungsschwierigkeiten zwischen – nichtöffentlichen – gerichtlichen Vollstreckungsakten und – öffentlichen – richterlichen Erkenntnisverfahren ergeben (Rn. 6.33 m.Nw.), entspricht die Vermutung zu Gunsten der Öffentlichkeit dem verfassungsmäßigen Gewicht dieses Grundsatzes.

      7.33

      Der Gläubiger begehrt im Antragsverhältnis (Rn. 5.8) vom Staat die Verwirklichung der Rechtsschutzgewährleistung (Rn. 7.1), der Schuldner und Dritte sehen sich im Eingriffsverhältnis (Rn. 5.12) oder Drittverhältnis (Rn. 5.25) den Vollstreckungseingriffen hoheitlich handelnder staatlicher Organe ausgesetzt. Wenn die staatlichen Organe die Vollstreckung verweigern oder in die Rechte des Schuldners oder Dritter fehlerhaft eingreifen, so gelten die Gewährleistung eines effektiven rechtsstaatlichen Verfahrens und die Rechtsschutzgarantie gegen Rechtsverletzungen durch die öffentliche Gewalt (Art. 19 Abs. 4 GG). Die vollstreckungsrechtlichen Rechtsbehelfe, die das „Ob“ und „Wie“ der Vollstreckung gerichtlicher Kontrolle unterwerfen (§§ 766, 771, 767 etc.), sind deshalb in ihrem Kernbestand verfassungsfest, natürlich nicht in ihrer konkreten Ausgestaltung[46]. Die Verfassung verlangt aber erschöpfenden und effektiven Rechtsschutz für und gegen Vollstreckungsakte (s.a. Rn. 2.2, 2.14).

      Dabei ist der Anwendungsbereich der Rechtsschutzgewährleistung in Zivilsachen (Art. 2 Abs. 1, 14 GG i.V.m. Rechtsstaatsprinzip) gegen den Anwendungsbereich des besonderen „öffentlichen“ Rechtsschutzgrundrechts (Art. 19 Abs. 4 GG) schwer oder kaum abgrenzbar, vor allem soweit zivilrechtlicher Rechtsschutz durch Hoheitsakte ohne Erkenntnischarakter gewährt wird. Da Art. 19 Abs. 4 GG letztlich nur ein Sonderfall der allgemeinen Gewährleistung rechtsstaatlichen Rechtsschutzes ist, bedarf diese Abgrenzung keiner Vertiefung. Die Ergebnisse sind unabhängig vom Ausgangspunkt identisch.

      7.34

      Nach dem Prioritätsgrundsatz werden die früher vollstreckenden, „raschen“ Gläubiger voll befriedigt bis zur Aufzehrung schuldnerischen Vollstreckungsguts, spätere Gläubiger gehen leer aus (Rn. 6.37 ff.). Das Gleichrangprinzip beteiligt hingegen alle vollstreckenden Gläubiger anteilig am Vollstreckungsgut des Schuldners und verwirklicht dadurch den Gedanken der Rechtsgleichheit in der Vollstreckung. Vor allem beim Arrestpfandrecht (Rn. 51.4, 52.15) kann das Prioritätsprinzip auf den ersten Blick fragwürdige Effekte hervorrufen[47]. Ist das Prioritätsprinzip verfassungsrechtlich haltbar?

      7.35

      Man muss sich zunächst klar machen, dass das Prioritätsprinzip des materiellen Rechts (Rn. 6.40) in der Privatautonomie (Art. 2 Abs. 1, 14 Abs. 1 GG) wurzelt: wenn mehrere Individuen abstrakt eine bestimmte Gestaltungsmöglichkeit haben, die konkrete Gestaltung aber nur einmal möglich ist, so bleibt nur die Priorität als Auswahlkriterium rechtlicher Wirksamkeit, soll bei knappen Gütern die Privatautonomie nicht ausgeschaltet sein. Genau gleich ist es mit der verfahrensförmigen Rechtswahrnehmung, wie sie Art. 2 Abs. 1, 14 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip garantieren (Rn. 7.1): nur, wenn bei knappen Vollstreckungsgütern die Priorität gilt, kann die Rechtsschutzgewährleistung überhaupt voll eingelöst werden. Der Gleichheitssatz gemäß Art. 3 Abs. 1 GG erzwingt demgegenüber die Beschränkung der Privatautonomie und der Rechtswahrnehmung, wenn er bei knappen Gütern die Kürzung der Erwerbschance und der Vollstreckungsmöglichkeit verlangt. So prallen bei der Rechtsverwirklichung Art. 2 Abs. 1 GG und Art. 3 Abs. 1 GG als grundrechtliche Antipoden in bekannter Weise aufeinander: Entfaltungsfreiheit und Gleichheit können nur in praktische Konkordanz gebracht werden, wenn die freie Entfaltung Ungleichheiten erzeugen darf, umgekehrt aber durch die Gleichheit beschränkt wird.

      7.36

      

      Diesen Anforderungen an die praktische Konkordanz zweier Grundrechte wird das einfache deutsche Vollstreckungsrecht gerecht, wenn man Einzelvollstreckung und Insolvenzrecht als Gesamtsystem betrachtet. Ausgangspunkt ist das Prioritätsprinzip der Einzelvollstreckung, das dem sein Recht verfolgenden Gläubiger volle Rechtswahrnehmung belässt und spätere Gläubiger auf den Rest verweist. Es liegt in der Hand der konkurrierenden Gläubiger oder des Schuldners, mit dem Insolvenzantrag der Verteilungsgerechtigkeit des Gleichheitssatzes (Art. 3 Abs. 1 GG) Geltung zu verschaffen, wobei dann das Anfechtungsrecht des Insolvenzrechts diese Gleichheit auch rückwirkend herstellt. Ein Vollstreckungssystem, das nur an Priorität orientiert wäre und dem Gleichheitssatz keinerlei Raum beließe, müsste man sicher als nicht verfassungsgemäß betrachten; denn die Möglichkeit insolvenzrechtlicher Aufteilung des Schuldnervermögens

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