Zwangsvollstreckungsrecht, eBook. Alexander Bruns
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b) Beschränkte Fachkompetenz
7.43
Im Beschluss zur obligatorischen richterlichen Anordnung einer Wohnungsdurchsuchung (BVerfGE 51, 97) folgte das BVerfG entgegen nahezu einhelliger Stellungnahme der Praxis (BJM, BGH, Gerichtsvollzieherbund) der stringenten Auslegung des Art. 13 Abs. 2 GG durch die überwiegende verfassungsrechtliche Literatur. Die gesamten Folgeprobleme waren nicht richtig mitbedacht: Antragsbefugnisse (Gerichtsvollzieher, Gläubiger?); Erfordernis eines erfolglosen Vollstreckungsversuchs; Durchsuchung bei Bagatellforderungen; vorheriges Gehör des Schuldners (ergänzende Andeutungen dann in BVerfGE 57, 346); Substantiierung der Notwendigkeit und richterliche Prüfungspflicht (ergänzende Andeutungen in BVerfGE 57, 346); mehrere richterliche Anordnungen bei Vollstreckung für mehrere Gläubiger? (BVerfGE 76, 83 mit äußerst feinsinniger Abgrenzung; s. Rn. 8.17); besondere Anordnung auch bei Herausgabevollstreckung, bei Räumungsvollstreckung, bei Ausführung des Haftbefehls, bei Durchsuchung von Geschäftsräumen, bei Wohngemeinschaft des Räumungsschuldners mit Dritten? Es fragt sich doch, ob die 30-jährige Vollstreckungspraxis so wenig rechtsstaatlich war, dass es sich lohnte, die Fachgerichte und Gesetzgebung mit diesem „Rattenschwanz“ von Problemen und Unklarheiten zu belasten und die Vollstreckung weiter zu komplizieren. Das Instrumentarium der Verfassungsinterpretation hätte zu anderem Ergebnis wahrlich ausgereicht.
c) Schwelle zum Verfassungsverstoß
7.44
Dass die Schwelle zum Verfassungsverstoß zu niedrig sitzen mag, zeigt BVerfGE 52, 214 mit seinem Räumungsfall: Beginn der Miete August 1975; Kündigung im März 1976 wegen unerlaubter Hundehaltung (2 große Hunde); Räumungsurteil November 1978; Vollstreckungsschutz durch AG und LG für 60-jährigen Gastwirt bis Juni 1979 wegen Selbstmordgefahr (Vorlage zweier Atteste); Verfassungsbeschwerde; Räumungsgläubiger tragen als „Hintergrund“ der Kündigung vor: tätliche Angriffe, Mietrückstände, Aufnahme junger Männer in die Wohnung, Polizei- und Feuerwehreinsätze bei Vorfällen; Suizidversuche im Alkoholrausch. Der Mieter könne einer Suizidgefahr durch Krankenhausaufenthalt oder Ausweichen in andere eigene Wohnungen vorbeugen; gegebenenfalls habe die Gesundheitsbehörde einzugreifen. Ist es wirklich ein Verfassungsverstoß, wenn die Fachgerichte an der Räumungsfrist festhielten und keine weiteren ärztlichen Gutachten einholten? Die Verfassungsträchtigkeit ist bei hilflosen, alten, kranken und langjährigen Mietern verständlich (z.B. BVerfGE 84, 345; NJW 1992, 1155; Rn. 7.3); in Fällen dieser Art erscheint aber die Zensur der Fachgerichte allzu hart.
d) Grundrechtskollision und Verhältnismäßigkeitsgrundsatz
7.45
In einem Sondervotum hat Böhmer die Ansicht vertreten, dem Vollstreckungsgläubiger könne immer nur der geringste Eingriff in die Schuldnersphäre zur Erreichung seines Vollstreckungszwecks erlaubt sein[60]. Das BVerfG hat eine ähnlich schematisierte Verhältnismäßigkeitskontrolle des Vollstreckungseingriffs anklingen lassen, als es bei Bagatellforderungen die Wohnungsdurchsuchung für fragwürdig hielt[61]. In beiden Fällen vernachlässigt die Verhältnismäßigkeitskontrolle das Rechtsschutzgrundrecht des Gläubigers[62], u.U. bis zur faktischen Rechtsverweigerung, und führt dann zur Korrektur des materiellrechtlichen Anspruchs. Auch ist zu berücksichtigen, dass der Schuldner „unverhältnismäßigen“ Eingriffen meist durch Selbstliquidation ausweichen kann (Rn. 6.75, 7.18)[63]. Letztlich kann nur eine konkrete Abwägung verfassungswerter Interessen ein zeitlich befristetes Moratorium in Extremfällen verfassungsrechtlich gebieten. Auch die von Gerhardt (ZZP 95, 488) aufgestellte Grundregel, am menschlichen Leben scheitere jede Vollstreckung („kein Leben gegen Eigentum“) verliert ihre stringente Schlüssigkeit, wenn man z.B. dem suizidbedrohten Mieter den ebenfalls kranken, suizidbedrohten Mitmieter oder Vermieter gegenüberstellt, der unter der Gegenwart des kranken Mieters gesundheitlich leidet. Konkrete Abwägungen haben den Nachteil, den Rechtsstreit neu aufzurollen und zur Rechtsunsicherheit zu führen; man sollte sie deshalb klaren Fällen schweren Unrechts vorbehalten. „Die Verfassungsrechtler besitzen den Schlauch des Äol, die klarsten zivilrechtlichen Ansprüche im Winde von Übermaßverbot und Güterabwägung schwanken und zerknicken zu lassen …“ (Stürner NJW 1981, 1760).
3. Verfassungsrichterliche Selbstbeschränkung im Vollstreckungsrecht
7.46
Die Kritik an der Rechtsprechung des BVerfG kann nicht vergessen machen, dass positive Vorschläge für bessere und praktikable Maßstäbe verfassungsrichterlicher Kontrolle letztlich fehlen und wahrscheinlich unmöglich sind. Man wird sich auf den Wunsch zu beschränken haben, bei der verfassungsrichterlichen Bewertung von richterlichen Entscheidungen im Vollstreckungsrecht stärker als bisher Selbstbeschränkung zu üben. Die Praxis täte gut daran, die Entscheidungen in erster Linie als Einzelfallkorrekturen zu begreifen und grundsätzliche Anpassungen des Zwangsvollstreckungsrechts an den neuesten Stand der Verfassungsinterpretation dem Gesetzgeber zu überlassen, der z.B. im Zwangsversteigerungsrecht tätig geworden ist (§§ 30a, 74a, 85a ZVG). Es wäre um die Rechtssicherheit und Durchschlagskraft des Vollstreckungsrechts schlecht bestellt, wenn nun Richter und Vollstreckungsorganwalter daran gingen, das einfache Recht nach ihren Vorstellungen vom Verhältnismäßigkeitsprinzip umzustülpen[64].
§ 8 Die Vollstreckungsorgane
Schrifttum:
Messer, Die freiwillige Leistung des Schuldners in der Zwangsvollstreckung, 1966; Kern, Reformgedanken über die Stellung und Aufgaben des Gerichtsvollziehers, ZZP 80 (1967), 325; Gaul, Zur Struktur der Zwangsvollstreckung, Rpfleger 1971, 81; Hoffmann, Die Aufgabenverteilung zwischen Vollstreckungsorgan und erkennendem Gericht (Diss. Saarbrücken 1972); Dütz, Der Gerichtsvollzieher als selbstständiges Organ der Zwangsvollstreckung, 1973; Gaul ZZP 87 (1974), 241 (Besprechungsaufsatz zu Dütz); Zeiss, Aktuelle vollstreckungsrechtliche Fragen aus der Sicht des GVs, JZ 1974, 564; Pawlowski, Die Wirtschaftlichkeit der Zwangsvollstreckung, ZZP 90 (1977), 345; Fahland, Die freiwillige Leistung in der Zwangsvollstreckung und ähnliche Fälle, ZZP 92 (1979), 432; Eickmann, Vollstreckungssysteme und Gerichtsvollzieherstellung in Europa, DGVZ 1980, 129; Brehm, Zentralisierung der Zwangsvollstreckung, Rpfleger 1982, 125; Eich, Die Vollstreckungsorgane der Volksrechte (Diss. Bonn 1983); Noack, Die Verpflichtung des Gerichtsvollziehers zur Aufklärung und Berücksichtigung des im Einzelfall gegebenen Sachverhalts, DGVZ 1984, 33; Christmann, Der Gerichtsvollzieher und sein Amt, DGVZ 1985, 33; Eich, Vollstreckungspersonen – Ursprünge und Entwicklungen bis zum Gerichtsvollzieher des heutigen Rechts, DGVZ 1985, 13; Geißler, Zum Beschwerderecht des Gerichtsvollziehers in der Zwangsvollstreckung, DGVZ 1985, 129; Hanke, Erfolge oder Rückschläge? Zur Entwicklung des Zwangsvollstreckungsrechts seit 1974 und zur Rechtsstellung des Gerichtsvollziehers, DGVZ 1986, 17; H. Schneider, Formstrenge und Wertung in der Vollstreckungstätigkeit des Gerichtsvollziehers, DGVZ 1986, 130; Stolte, Aufsicht über die Vollstreckungshandlungen des Gerichtsvollziehers (Diss. Bochum WS 1986/87); ders., Der Gerichtsvollzieher – Vollstreckungsorgan