Zwangsvollstreckungsrecht, eBook. Alexander Bruns
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7.37
Dies bedeutet nicht, dass die Einführung des Gleichrangprinzips im deutschen Einzelvollstreckungsrecht verfassungswidrig wäre. Man muss aber sehen, dass sich der Grundsatz der Naturalvollstreckung (Rn. 6.44 ff.) mit dem Gleichrangprinzip, das notwendigerweise auf Geldvollstreckung begrenzt ist, nur eingeschränkt verträgt: Naturalgläubiger und Geldgläubiger hätten unterschiedliche Befriedigungschancen. Die Gleichbehandlung von Natural- und Geldgläubigern und die Einfachheit des Verfahrens sprechen eher für das Prioritätsprinzip (Rn. 6.41 ff., 6.43).
IV. Verfassungsrechtliche Stellung des Ehegatten des Vollstreckungsschuldners
7.38
Die Ehegatten des Vollstreckungsschuldners sind im Einzelvollstreckungsrecht – wie in der Insolvenz[50] – einer Sonderbehandlung ausgesetzt (§§ 1362 BGB, 739 ZPO, 3 Abs. 2 AnfG i.V.m. § 138 Abs. 1 Nr. 1 InsO), die den Gläubigern den Vollstreckungszugriff erleichtert und dem Ehegatten die Verteidigung eigenen Erwerbs erschwert (Rn. 19.1 ff., 26.30 ff.). Das BVerfG geht bis heute davon aus, dass diese Schlechterstellung verheirateter Dritter mit Art. 6 Abs. 1, 3 Abs. 1 GG vereinbar sei, weil sie ehespezifischen Gefahren der Vermögensverschiebung begegne und das „Übermaßverbot“ nicht verletze[51]. Die Bedenken richten sich allerdings weniger gegen die vollstreckungsrechtliche Schlechterstellung als solche als gegen die isolierte Schlechterstellung der Eheleute: es gibt außer der Ehe in der heutigen Gesellschaft zahlreiche andere Verbindungen, die ähnliche Verschiebungsgefahr ohne entsprechende Konsequenzen heraufbeschwören (nichteheliche Lebensgefährten, Wohngemeinschaften, Organwalter oder herrschende Teilhaber der schuldnerischen juristischen Person etc.).
7.39
Es ist bedauerlich, dass das BVerfG diese Bedenken der vollstreckungsrechtlichen Literatur (Rn. 19.9; 11. Auflage Rn. 288 m.Nw.) nie erörtert hat, um seine Überlegungen auf die Wiedergabe sibyllinischer kanonischer Formeln zur Bedeutung der Ehe zu beschränken, die das eigentliche Sachproblem ausklammern. Der Reformgesetzgeber wollte ursprünglich in der Zweiten Zwangsvollstreckungsnovelle nichteheliche Lebensgemeinschaften im Vollstreckungsrecht den Ehen gleichstellen, hat dann aber diesen Schritt nicht vollzogen, der auch etwas zu kurz greifen würde (Rn. 4.12, 4.27). Im Anfechtungsrecht erweitert nunmehr § 3 Abs. 2 AnfG i.V.m. § 138 InsO für die Absichtsanfechtung den betroffenen Kreis auf „nahestehende Personen“ (Rn. 26.22) und trägt damit den verfassungsrechtlichen Bedenken und der bisherigen Auslegungspraxis (Rn. 26.27) Rechnung. Die Schenkungsanfechtung gilt unterschiedslos für alle Beschenkten (§ 4 Abs. 1 AnfG; Rn. 26.30).
1. Der Bereich verfassungsgerichtlicher Rechtsprechung
7.40
Das BVerfG hat sich in folgenden Bereichen mit der Frage nach möglichen Grundrechtsverletzungen durch Vollstreckungsakte beschäftigt: bei vermögensverschleudernden Zwangsversteigerungen[52] bzw. Teilungsversteigerungen[53]; bei Wohnungsdurchsuchungen durch den Gerichtsvollzieher ohne richterliche Anordnung[54]; bei gesundheitsgefährdender Räumungsvollstreckung[55]; bei Haftanordnung nach verweigerter eidesstattlicher Versicherung zur Vollstreckung von Bagatellforderungen[56]; bei Verweigerung des Armenrechts in der Zwangsvollstreckung[57]; bei der Unterlassungsvollstreckung[58]. Man mag getrost davon ausgehen, dass ganz überwiegend die ordentlichen Gerichte gleich besser im Sinne des BVerfG entschieden hätten, also zumindest Fehlanwendungen des einfachen Rechts vorgelegen haben. Gleichwohl bleibt der gehäufte verfassungsrichterliche Eingriff in das Vollstreckungsrecht fragwürdig und zwar aus Gründen allgemeiner Problematik der Verfassungsrechtsprechung, wie sie im Vollstreckungsrecht besonders deutlich werden, und aus Gründen vollstreckungsrechtlicher Besonderheiten.
2. Die Problematik verfassungsgerichtlichen Eingriffs
7.41
Zunächst zur allgemeinen Problematik. Die Bindungswirkung und damit Kanonisierung der Entscheidungsgründe gibt Ausführungen des BVerfG Allgemeinverbindlichkeit, die zu einem grob unbillig entschiedenen Einzelfall gemacht sind und als generelle Leitlinie wegen ihrer Undifferenziertheit schwerlich taugen. Allzu tiefes Eintauchen in die Details eines Rechtsgebiets anlässlich eines Einzelfalles lässt die Selbstbeschränkung aus Gründen beschränkter Fachkompetenz allzu leicht vergessen. Wenn sich die Unterscheidung von einfacher Rechtsfehlanwendung und Verfassungsverletzung letztlich an der Schwere und Bedeutung des Rechtseingriffs misst – und beim heutigen Stand der Verfassungsrechtsprechung ist grob gesagt jedes schwere Unrecht verfassungswidrig –, so ist die Schwelle zum Verfassungsverstoß hoch zu setzen, teilweise höher als bisher, soll nicht die berühmte „Superrevisionsinstanz“ mit viel beklagtem hohen Arbeitsanfall entstehen. Die Verfassungskontrolle von Vollstreckungsakten hat schließlich ihre tückische Besonderheit: anders als bei vielen gewöhnlichen Hoheitsakten steht praktisch immer eine Grundrechtskollision zur Beurteilung, es ist die verfassungsrechtliche Rechtsschutzgarantie des Gläubigers mit der verfassungsrechtlichen Rechtsschutzgarantie des Schuldners oder einem klassischen Grundrecht des Schuldners in praktische Konkordanz zu bringen. Die Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ist von dieser permanenten Grundrechtskollision geprägt und besteht regelmäßig in der Abwägung beider Grundrechte. Entweder entsteht dabei die Gefahr allzu starker Konkretisierung, die eine Abwägung konkreter Gläubiger- und Schuldnerinteressen vornimmt und damit das Erkenntnisverfahren auf Verfassungsebene wiederholt, oder man erliegt der Gefahr falscher Schematisierung, die Vollstreckungen unmöglich zu machen droht (z.B.: „Keine Zwangsversteigerung wegen Bagatellforderungen“ etc.); der rechte Weg zwischen Szylla und Charybdis ist oft schwer zu finden. Diese allgemeinen Thesen sollen kurz anhand bisheriger Entscheidungen des BVerfG beispielhaft erläutert werden.
a) Falsche Kanonisierung
7.42
BVerfGE 42, 64, 78 führt aus, der Rechtspfleger habe gemäß § 139 im Versteigerungstermin auf das Missverhältnis von Grundstückswert (lastenbereinigt DM 124 000,–) und Gebot (DM 2000,–) hinzuweisen und bei der Teilungsversteigerung Antragsrücknahme anregen müssen. Darin liege kein Verstoß gegen das Gebot richterlicher Distanz und Neutralität. „Die richterliche Neutralität ist kein wertfreies Prinzip, sondern an den Grundwerten der Verfassung