Der Zauberberg. Volume 2. Томас Манн
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Die Verabfolgung der Injektionen, so meldete Hans Castorp nach Hause, hatte der Hofrat neuestens unterbrochen. Sie beka-men diesem jungen Patienten nicht, verursachten ihm Kopf-schmerzen, Appetitlosigkeit, Gewichtsabnahme und Müdigkeit, hatten die "Temperatur" zunächst erhöht und dann nicht beseitigt. Sie glühte als trockene Hitze subjektiv fort in seiner rosen-roten Miene, als Mahnung daran, daß die Akklimatisation für diesen Sprößling der Tiefebene und ihrer feuchtfröhlichen Me-teorologie doch eben wohl hauptsächlich in der Gewöhnung daran bestand, daß er sich nicht gewöhnte, – was übrigens Rha-damanthys ja selber nicht tat, der immer blaue Backen hatte. "Manche gewöhnen sich nie", hatte Joachim gleich gesagt, und dies schien Hans Castorps Fall. Denn auch das Genickzittern, das ihn hier oben bald nach der Ankunft zu belästigen begon-nen, hatte sich nicht wieder verlieren wollen, sondern stellte sich im Gehen, im Gespräch, ja selbst hier oben am blau blü-henden Orte seines Nachdenkens über den Komplex seiner Abenteuer unvermeidlich ein, so daß ihm die würdige Kinn-stütze Hans Lorenz Castorps beinahe schon zur festen Gewohn-heit geworden war, – nicht ohne ihn selbst, wenn er sie benütz-te, an die Vatermörder des Alten, die Interimsform der Ehrenkrause, an das blaßgoldene Rund der Taufschale, an den from-men Ur-Ur-Laut und ähnliche Verwandtschaften unter der Hand zu erinnern und ihn so zum Überdenken seines Lebens-komplexes neuerdings hinzuleiten.
Pribislav Hippe erschien ihm nicht mehr leibhaftig, wie vor elf Monaten. Seine Akklimatisation war vollendet, er hatte kei-ne Visionen mehr, lag nicht mit stillgestelltem Leibe auf seiner Bank, während sein Ich in ferner Gegenwart weilte – nichts mehr von solchen Zufällen. Deutlichkeit und Lebendigkeit dieses Erinnerungsbildes, wenn es ihm denn vorschwebte, hielten sich in normalen, gesunden Grenzen, und im Zusammenhang damit zog dann Hans Castorp wohl aus seiner Brusttasche das gläserne Angebinde, das er dort in einem gefütterten Briefum-schlag und hierauf in der Brieftasche verwahrt hielt: ein Täfel-chen, das, wenn man es in gleicher Ebene mit dem Erdboden hielt, schwarz-spiegelnd und undurchsichtig schien, aber, gegen das Himmelslicht aufgehoben, sich erhellte und humanistische Dinge vorwies: das transparente Bild des Menschenleibes, Rip-penwerk, Herzfigur, Zwerchfellbogen und Lungengebläse, dazu das Schlüssel – und Oberarmgebein, umgeben dies alles von blaßdunstiger Hülle, dem Fleische, von dem Hans Castorp in der Faschingswoche vernunftwidrigerweise gekostet hatte. Was Wunder, daß sein bewegliches Herz stockte und stürzte, wenn er das Angebinde betrachtete und dann fortfuhr, "alles" zu überschlagen und zu bedenken, gelehnt an die schlicht gezim-merte Lehne der Ruhebank, die Arme gekreuzt, den Kopf zur Schulter geneigt, im Geräusche des Gießwassers und angesichts der blaublühenden Akelei?
Das Hochgebild organischen Lebens, die Menschengestalt, schwebte ihm vor, wie in jener Frost – und Sternennacht anläß-lich gelehrter Studien, und an ihre innere Anschauung knüpften sich für den jungen Hans Castorp so manche Fragen und Unter-scheidungen, mit denen sich abzugeben der gute Joachim nicht verpflichtet sein mochte, für die aber er als Zivilist sich verant-wortlich zu fühlen begonnen hatte, obwohl auch er im Flach-lande drunten ihrer niemals ansichtig geworden war und ver-mutlich nie ansichtig würde geworden sein, wohl aber hier, wo man aus der beschaulichen Abgeschiedenheit von fünftausend Fuß auf Welt und Kreatur hinabblickte und sich seine Gedanken machte, – vermöge einer durch lösliche Gifte erzeugten Steigerung des Körpers auch wohl, die als trockene Hitze im Antlitz brannte. Er dachte an Settembrini im Zusammenhang mit jener Anschauung, an den pädagogischen Drehorgelmann, dessen Va-ter in Hellas zur Welt gekommen, und der die Liebe zum Hochgebild als Politik, Rebellion und Eloquenz erläuterte, in-dem er die Pike des Bürgers am Altar der Menschheit weihte; dachte auch an den Kameraden Krokowski und an das, was er seit einiger Zeit im verdunkelten Zimmergelaß mit ihm trieb, besann sich über das doppelte Wesen der Analyse und wie weit sie der Tat und dem Fortschritte förderlich sei, wie weit dem Grabe verwandt und seiner anrüchigen Anatomie. Er rief die Bilder der beiden Großväter neben – und gegeneinander auf, des rebellischen und des getreuen, die Schwarz trugen aus unter-schiedlichen Gründen, und erwog ihre Würde; ging ferner mit sich zu Rate über so weitläufige Komplexe wie Form und Frei-heit, Geist und Körper, Ehre und Schande, Zeit und Ewigkeit, – und unterlag einem kurzen, aber stürmischen Schwindel bei dem Gedanken, daß die Akelei wieder blühte und das Jahr in sich selber lief.
Er hatte ein sonderbares Wort für diese seine verantwortliche Gedankenbeschäftigung am malerischen Orte seiner Zurückge-zogenheit: er nannte sie "Regieren", – gebrauchte dies Spiel-und Knabenwort, diesen Kinderausdruck dafür, als für eine Un-terhaltung, die er liebte, obwohl sie mit Schrecken, Schwindel und allerlei Herztumulten verbunden war und seine Gesichts-hitze übermäßig verstärkte. Doch fand er es nicht unschicklich, daß die mit dieser Tätigkeit verbundene Anstrengung ihn nötig-te, sich der Kinnstütze zu bedienen, denn diese Haltung stimm-te wohl mit der Würde überein, die das "Regieren" angesichts des vorschwebenden Hochgebildes ihm innerlich verlieh.
"Homo Dei" hatte der häßliche Naphta das Hochgebild ge-nannt, als er es gegen die englische Gesellschaftslehre verteidigte. Was Wunder, daß Hans Castorp um seiner zivilistischen Ver-antwortlichkeit willen und im Regierungsinteresse sich gehalten fand, mit Joachim bei dem Kleinen Besuch zu machen? Settem-brini sah es ungern, – dies deutlich zu spüren, war Hans Castorp schlau und dünnhäutig genug. Schon die erste Begegnung war dem Humanisten unangenehm gewesen, er hatte sie offensicht-lich zu verhindern gestrebt und die jungen Leute, namentlich aber ihn selbst – so sagte sich das durchtriebene Sorgenkind – vor der Bekanntschaft mit Naphta pädagogisch hüten wollen, obgleich ja er für seine Person mit ihm verkehrte und disputier-te. So sind die Erzieher. Sich selber gönnen sie das Interessante, indem sie sich ihm "gewachsen" nennen; der Jugend aber ver-bieten sie es und verlangen, daß sie sich dem Interessanten nicht "gewachsen" fühle. Ein Glück nur, daß es dem Drehorgelmann im Ernst überhaupt nicht zustand, dem jungen Hans Castorp et-was zu verbieten, und daß er ja auch gar nicht den Versuch dazu gemacht hatte. Der Sorgenzögling brauchte seine Dünnhäutigkeit nur zu verleugnen und Unschuld vorzuschützen, so hinder-te nichts ihn, der Einladung des kleinen Naphta freundlich zu folgen, – was er denn auch getan hatte, mit dem wohl oder übel sich anschließenden Joachim, wenige Tage nach dem ersten Zu-sammentreffen, an einem Sonntagnachmittag, nach dem Haupt-liegedienst.
Es waren wenige Minuten Wegs vom Berghof hinunter zum Häuschen mit der weinumkränzten Haustür. Sie traten ein, lie-ßen den Zugang zum Krämerladen zur Rechten liegen und er-klommen die schmale braune Stiege, die sie vor eine Etagentür führte, neben deren Klingel lediglich das Namensschild Luka-ceks, des Damenschneiders, angebracht war. Die Person, die ih-nen öffnete, war ein halbwüchsiger Knabe in einer Art von Livree, gestreifter Jacke und Gamaschen, ein Dienerchen, kurz-geschoren und rotbackig. Ihn fragten sie nach Herrn Professor Naphta und prägten ihm, da sie mit Karten nicht ausgestattet waren, ihre Namen ein, die er Herrn Naphta – er gebrauchte keinen Titel – zu nennen ging. Die dem Eingang gegenüberlie-gende Zimmertür stand offen und gewährte Einblick in die Schneiderei, wo des Feiertags ungeachtet Lukajek mit unterge-schlagenen Beinen auf einem Tische saß und nähte. Er war bleich und kahlköpfig; von einer übergroßen, abfallenden Nase hing ihm der schwarze Schnurrbart mit saurem Ausdruck zu Sei-ten des Mundes herab.
"Guten Tag!" wünschte Hans Castorp.
"Grütsi", antwortete der Schneider mundartlich, obgleich das Schweizerische weder zu seinem Namen noch zu seinem Äuße-ren paßte und etwas falsch und sonderbar klang.
"So fleißig?" fuhr Hans Castorp nickend fort… "Es ist ja Sonntag!"
"Eilige Arbeit", versetzte Lukaçek kurz und stichelte.
"Ist wohl was Feines", vermutete Hans Castorp, "was rasch gebraucht wird, für