Der Zauberberg. Volume 2. Томас Манн
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"Wird es hübsch?" fragte Hans Castorp noch. "Machen Sie Ärmel dran?"
"Ja, Ärmel, es ist für eine Olte", antwortete Lukaçek mit stark böhmischem Akzent. Die Rückkehr des Dienerchens unterbrach dies durch die Tür geführte Gespräch. Herr Naphta lasse bitten, näher zu treten, meldete er und öffnete den jungen Leuten eine Tür, zwei oder drei Schritte weiter rechts, wobei er auch noch eine zusammenfallende Portiere vor ihnen aufzuheben hatte. Die Eintretenden empfing Naphta, in Schleifenschuhen auf moosgrünem Teppich stehend.
Beide Vettern waren überrascht durch den Luxus des zwei-fenstrigen Arbeitszimmers, das sie aufgenommen hatte, ja ge-blendet durch Überraschung; denn die Dürftigkeit des Häus-chens, seiner Treppe, seines armseligen Korridors ließ derglei-chen nicht entfernt erwarten und verlieh der Eleganz von Naphtas Einrichtung durch Kontrastwirkung etwas Märchenhaftes, was sie an und für sich kaum besaß und auch in den Augen Hans Castorps und Joachim Ziemßens nicht besessen hätte. Im-merhin, sie war fein, ja glänzend, und zwar so, daß sie trotz Schreibtisch und Bücherschränken den Charakter des Herrenzimmers eigentlich nicht wahrte. Es war zuviel Seide darin, weinrote, purpurrote Seide: die Vorhänge, die die schlechten Türen verbargen, waren daraus, die Fenster-Überfälle und eben-so die Bezüge der Meubles-Gruppe, die an einer Schmalseite, der zweiten Tür gegenüber, vor einem die Wand fast ganz be-spannenden Gobelin angeordnet war. Es waren Barockarmstüh-le mit kleinen Polstern auf den Seitenlehnen, um einen runden, metallbeschfagenen Tisch gruppiert, hinter dem ein mit Seiden-plüschkissen ausgestattetes Sofa desselben Stiles stand. Die Bü-cherspinde nahmen die Wandpartien neben den beiden Türen ein. Sie waren, wie der Schreibtisch, oder vielmehr der mit einem gewölbten Rolldeckel versehene Sekretär, der zwischen den Fenstern Platz gefunden hatte, in Mahagoni gearbeitet, mit Glastüren, hinter die grüne Seide gespannt war. Aber in dem Winkel links von der Sofagruppe war ein Kunstwerk zu sehen, eine große, auf rot verkleidetem Sockel erhöhte bemalte Holzplastik, – etwas innig Schreckhaftes, eine Pietà, einfältig und wirkungsvoll bis zum Grotesken: die Gottesmutter in der Hau-be, mit zusammengezogenen Brauen und jammernd schief ge-öffnetem Munde, den Schmerzensmann auf ihrem Schoß, eine im Größenverhältnis primitiv verfehlte Figur mit kraß heraus-gearbeiteter Anatomie, die jedoch von Unwissenheit zeugte, das hängende Haupt von Dornen starrend, Gesicht und Glieder mit Blut befleckt und berieselt, dicke Trauben geronnenen Blutes an der Seitenwunde und den Nägelmalen der Hände und Füße. Dies Schaustück verlieh dem seidenen Zimmer nun freilich einen besonderen Akzent. Auch die Tapete, über den Bücher-schränken und an der Fensterwand sichtbar, war übrigens offen-bar eine Leistung des Mieters: das Grün ihrer Längsstreifen war das des weichen Teppichs, der über die rote Bodenbespannung gebreitet war. Nur der niedrigen Decke war wenig zu helfen gewesen. Sie war kahl und rissig. Doch hing ein kleiner vene-zianischer Lüster daran herab. Die Fenster waren mit cremefar-benen Stores verhüllt, die bis zum Boden reichten.
"Da haben wir uns zu einem Kolloquium eingefunden!" sag-te Hans Castorp, während seine Augen mehr an dem frommen Schrecknis im Winkel, als an dem Bewohner des überraschen-den Zimmers hafteten, der es anerkannte, daß die Vettern Wort gehalten hätten. Er wollte sie mit gastlichen Bewegungen seiner kleinen Rechten zu den seidenen Sitzen leiten, aber Hans Castorp ging geradewegs und gebannt auf die Holzgruppe zu und blieb, Arme in die Hüften gestemmt, mit seitwärts geneigtem Kopf davor stehen.
"Was haben Sie denn da!" sagte er leise. "Das ist ja schreck-lich gut. Hat man je so ein Leiden gesehn? Etwas Altes, natür-lich?"
"Vierzehntes Jahrhundert", antwortete Naphta. "Wahrscheinlich rheinischer Herkunft. Es macht Ihnen Eindruck?"
"Enormen", sagte Hans Castorp. "Das kann seinen Eindruck auf den Besucher denn doch wohl gar nicht verfehlen. Ich hätte nicht gedacht, daß etwas zugleich so häßlich – entschuldigen Sie – und so schön sein könnte."
"Erzeugnisse einer Welt der Seele und des Ausdrucks", ver-setzte Naphta, "sind immer häßlich vor Schönheit und schön vor Häßlichkeit, das ist die Regel. Es handelt sich um geistige Schönheit, nicht um die des Fleisches, die absolut dumm ist. Übrigens, auch abstrakt ist sie", fügte er hinzu. "Die Schönheit des Leibes ist abstrakt. Wirklichkeit hat nur die innere, die des religiösen Ausdrucks."
"Das haben Sie dankenswert richtig unterschieden und ange-ordnet", sagte Hans Castorp. "Vierzehntes?" versicherte er sich … "Dreizehnhundertsoundso? Ja, das ist das Mittelalter, wie es im Buche steht, ich erkenne gewissermaßen die Vorstel-lung darin wieder, die ich mir in letzter Zeit vom Mittelalter gemacht habe. Ich wußte eigentlich nichts davon, ich bin ja ein Mann des technischen Fortschritts, soweit ich überhaupt in Fra-ge komme. Aber hier oben ist mir die Vorstellung des Mittelal-ters verschiedentlich nahegebracht worden. Die ökonomistische Gesellschaftslehre gab es damals noch nicht, soviel ist klar. Wie hieß der Künstler denn wohl?"
Naphta zuckte die Achseln.
"Was liegt daran?" sagte er. "Wir sollten danach nicht fragen, da man auch damals, als es entstand, nicht danach fragte. Das hat keinen wunderwie individuellen Monsieur zum Autor, es ist anonym und gemeinsam. Es ist übrigens sehr vorgeschrittenes Mittelalter, Gotik, Signum mortificationis. Sie finden da nichts mehr von der Schonung und Beschönigung, mit der noch die romanische Epoche den Gekreuzigten darstellen zu müssen glaubte, keine Königskrone, keinen majestätischen Triumph über Welt und Martertod. Alles ist radikale Verkündigung des Leidens und der Fleischesschwäche. Erst der gotische Ge-schmack ist der eigentlich pessimistisch-asketische. Sie werden die Schrift Innonzenz' des Dritten, 'De miseria humanae condi-tionis', nicht kennen, – ein äußerst witziges Stück Literatur. Sie stammt vom Ende des zwölften Jahrhunderts, aber erst diese Kunst liefert die Illustrationen dazu."
"Herr Naphta", sagte Hans Castorp nach einem Aufseufzen, "mich interessiert jedes Wort von dem, was Sie da hervorheben. "Signum mortificationis' sagten Sie? Das werde ich mir merken. Vorher sagten Sie etwas von "anonym und gemeinsam', was auch der Mühe wert scheint, darüber nachzudenken. Sie vermu-ten leider richtig, daß ich die Schrift des Papstes – ich nehme an, daß Innozenz der Dritte ein Papst war – nicht kenne. Habe ich richtig verstanden, daß sie asketisch und witzig ist? Ich muß ge-stehen, ich habe mir nie vorgestellt, daß das so Hand in Hand gehen könnte, aber wenn ich es ins Auge fasse, so leuchtet es mir ein, natürlich, eine Abhandlung über das menschliche Elend bietet zum Witz schon Gelegenheit, auf Kosten des Fleisches, Ist die Schrift denn erhältlich? Wenn ich mein Latein zusammen-nähme, vielleicht könnte ich sie lesen."
"Ich besitze das Buch", antwortete Naphta, mit dem Kopf nach einem der Schränke weisend. "Es steht Ihnen zur Verfügung. Aber wollen wir uns nicht setzen? Sie sehen die Pietà auch vom Sofa aus. Eben kommt unser kleines Vespermahl …"
Es war das Dienerchen, das Tee brachte, dazu einen hübschen silberbeschlagenen Korb, worin in Stücke geschnittener Baum-kuchen lag. Hinter ihm aber, durch die offene Tür, wer trat be-schwingten Schrittes mit "Sapperlot!!" "Accidenti!" und feinem Lächeln herein? Das war Herr Settembrini, wohnhaft eine Trep-pe höher, der sich einfand, in der Absicht, den Herren Gesell-schaft zu leisten. Durch sein Fensterchen, sagte er, habe er die Vettern kommen sehen und rasch noch eine enzyklopädische Seite heruntergeschrieben, die er eben unter der Feder gehabt, um sich dann ebenfalls hier zu Gaste zu bitten. Nichts war na-türlicher, als daß er kam. Seine alte Bekanntschaft mit den Berg-hofbewohnern berechtigte ihn dazu, und dann war auch sein Verkehr und Austausch mit Naphta, trotz tiefgehender Meinungsver-schiedenheiten, ja offenbar überhaupt sehr lebhaft, – wie denn der Gastgeber ihn leichthin und ohne Überraschung als Zugehörigen begrüßte. Das hinderte nicht, daß Hans Castorp von seinem Kommen sehr deutlich einen doppelten Eindruck gewann. Erstens, so empfand er, stellte Herr Settembrini sich ein, um ihn und Joachim, oder eigentlich kurzweg ihn, nicht mit dem häßlichen kleinen Naphta allein zu lassen, sondern durch seine Anwesenheit ein pädagogisches Gegengewicht zu schaffen; und zweitens war klar ersichtlich, daß er gar nichts da-gegen hatte, sondern die Gelegenheit recht gern benutzte, den Aufenthalt in seinem Dach auf eine Weile mit dem in Naphtas seidenfeinem Zimmer zu vertauschen und einen wohlservierten Tee