Über die Kolyma / О Колыме. Книга для чтения на немецком языке. Варлам Шаламов

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Über die Kolyma / О Колыме. Книга для чтения на немецком языке - Варлам Шаламов Russische moderne Prosa

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Erschießungen.

      Eine panische Furcht, uns irgendeine Hilfe zu gewähren, eine Brotrinde hinzuwerfen.

      Selbst heute noch schreibt man Bände von Erinnerungen – ich habe jene erschossen und vernichtet, die vom Hauch des tödlichen Windes berührt wurden, der auf Stalins Befehl Trotzkisten vernichtete, die keine Trotzkisten waren, sondern bloß Antistalinisten, und noch nicht einmal Antistalinisten – Tuchatschewskij, Krylenko*. Die Trotzkisten selbst trugen ja keinerlei Schuld.

      Wäre ich Trotzkist gewesen, ich wäre längst erschossen, vernichtet worden, doch schon die zeitweilige Berührung hat mir ein ewiges Brandmal[75] beschert. So sehr fürchtete sich Stalin. Wovor fürchtete er sich? Vor dem Verlust der Macht – nichts sonst.

      Das Waskow-Haus*

      Ein Soldat, heißt es, braucht einen Löffel. Der Häftling im Lager braucht auch den Löffel nicht. Suppe wie Nudeln kann man »über Bord« trinken und den Boden mit einer Brotkruste auswischen.

      Vor dem Lager habe ich Schuhgröße 44 und Mützengröße 59 getragen. Nach dem Lager Mützengröße 58, und Schuhgröße 45.

      Warum lässt man sich die Haare nicht scheren und trägt eine »freie« Frisur? Aus Protest, einer Regung, die manchmal psychotischen Charakter annimmt: der alte Sawodnik – ein ehemaliger Kommissar im Bürgerkrieg – stürzte sich mit dem Feuerhaken auf die Wächter, die dem Lagerfriseur halfen. Und verteidigte seinen Bart.

      Die ersten Schläge von Brigadieren und Begleitposten 1938, im Januar, Februar. Das Gespräch mit Wawilow in der Nacht.

      »Was wirst du tun, wenn sie zuschlagen?«

      »Ich weiß nicht. Ertragen wahrscheinlich.« Das ist Wawilow.

      Und als sie anfingen zu schlagen – Sujew, der Brigadier, schlug als Erster —, war klar, dass die Kräfte fehlten. Sie schlagen die Schwachen, die Geschwächten. Mich schlugen sie unendlich viele Mal.

      Poljanskij Ende 1938:

      »Als ich sah, wie du läufst, mit den Sohlen über die Erde schlurfst, dachte ich: er tut als ob. Und jetzt habe ich selbst begriffen, dass die Kräfte fehlen, den Fuß zu heben, den Schritt über eine Schwelle, ein Hügelchen zu tun.«

      Die erste Begegnung mit den Ganoven. Sie rissen mir einen Tabaksbeutel mit Machorka aus der Hand. Ich rannte dem Dieb nach, lief ihm hinterher in irgendeine Baracke, und der Barackendienst brachte mich mit einem Schlag mit dem Holzscheit zu Boden. Ich stand auf und ging. Danach habe ich mir bis zum Krankenhaus, bis ich Feldscher wurde, ganze acht Jahre lang keinen Tabaksbeutel mehr angeschafft. Die Machorka schüttete ich gleich in die Tasche. Das hatte einen besonderen Häftlings-Charme:

      »Kratzen wir zusammen?«

      »Lass uns zusammenkratzen.«

      Zusammenkratzen konnte man beinahe endlos, denn wenigstens drei Tabakkrümel[76] fanden sich unbedingt. Zwar ist das Rauchen dieser drei Krümel etwas Relatives, aber trotzdem.

      »Gib mir, Wronskij, ein bisschen Tabak.«

      Wronskij, der Bergbauingenieur:

      »Ich habe keinen.«

      »Na, drei Krümel.«

      »Drei Krümel meinetwegen.«

      Einander um Brot zu bitten ist unanständig, unzulässig. Aber um einen Hering zu bitten ist üblich. »Erlauben Sie nachzusalzen?« Übrigens war auch mit solchen Bitten anzukommen nicht überall üblich.

      Den Hering aß man immer mitsamt der Haut, dem Kopf, den Gräten …

      Der vollkommenste Schurke, den ich im Leben gesehen habe, ist Doktor Doktor, der ehemalige Chef des Zentralkrankenhauses der USWITL am Linken Ufer (und vorher an Kilometer 23); das war ein rachsüchtiger Nichtsnutz, grausam und gewissenlos, der den Leuten das Allerschlechteste wünschte. Selbst bestechlich, ein Profiteur und Speichellecker[77], hielt er endlose Vorträge über die Wachsamkeit. Verjagt und rausgeworfen wurde er von Schtscherbakow, einem etwas kleineren Schurken.

      Doktor Utrobin, der oft betrunken operierte, erwarb sich aufgrund der Ergebnisse seiner Operationen bei den Kranken und Ärzten den Spitznamen »Ugrobin«*.

      Doktor Lunin, Sergej Michajlowitsch, ein Urenkel des Dekabristen, mit der unbezähmbaren Leidenschaft, den Chefs näherzukommen. Man ließ ihn in Arkagala frei dank seiner Verbindung zu einer Krankenschwester, einem Parteimitglied »mit Verbindungen«. Sie hatte Lunins Freilassung erkämpft und erkämpfte für ihn noch in der Stalinzeit die Erlaubnis, in Moskau das Medizinische Institut abzuschließen und das Arztdiplom zu erwerben. Sie heiratete Lunin, opferte (zu jenen Zeiten das gewöhnliche Risiko bei einer Verbindung mit einem »Nichtarier«) den Parteiausweis, und als Lunin das Diplom hatte, verließ er sie, dieser Urenkel des Dekabristen. Ich kannte sowohl ihn als auch sie. Als ich fragte:

      »Warum haben Sie sich getrennt?«, lachte S. M. laut und sagte:

      »Zu viele Verwandte, und alle, weißt du, von einer bestimmten Nation.«

      Ich redete nicht mehr mit ihm. In der chirurgischen Abteilung begann der Suff, kurz, er war der Urenkel des Dekabristen…

      Ein Leutnant der Panzertruppen, beschuldigt nicht der Menschenfresserei, sondern der Leichenfresserei. Rotwangig, mit blauen Augen.

      »Ja, Bruder, ich habe im Leichenhaus immer ein Stückchen abgeschnitten. Gekocht und gegessen. Wie Kalbfleisch. Ich habe Hunger.«

      Der Menschenfresser Solowjow, der klassischen katorga-Menschenfresserei beschuldigt. Auf die Flucht hatten sie einen Dritten mitgenommen, einen frajer*.

      »Am zehnten Tag dann haben wir ihn nachts mit der Axt. Ganz haben wir ihn nicht gegessen. Haben ihn in einem kalten Bach unter einem Stein gelassen.«

      Beide Freunde wurden von der Operativgruppe eingefangen und waren geständig.

      Menschenfresser, zwei Menschenfresser wohnten an der Transport-Außenstelle bei Baragon (wohin Korolenko* verbannt war). Sie waren längst entlassen und sparten »fürs Festland«. Sie töteten einzelne Durchreisende, die über Nacht blieben, wie bei Ostrowskij, »Am verkehrsreichsten Platz«* – sie raubten sie aus, und das Fleisch aßen sie auf. Nach der Verhaftung zeigten sie die Schädel der Getöteten und die Knochen. Diese Menschenfresser kenne ich nur aus Erzählungen.

      Ein russischer Rockefeller der ersten Generation, ein Sammler von Besitztümern – Aleksej Schatalin, aus Tula. Verurteilt zur Erschießung, Ersetzung durch zehn Jahre. Zulieferung von Pferden an die Armee, aller möglicher Untergrundhandel »von der Nähnadel bis zur Fabrik«, wie sich Schatalin ausdrückt.

      »Als Kind, wenn ich in den Laden ging, dachte ich – wenn ich groß bin, will ich auch so einen haben, und dann erweitere ich ihn. Als Jugendlicher habe ich überlegt: was verschafft dem Menschen eine feste gesellschaftliche Position. Und die Antwort: Kapital und Bildung.

      Bildung – das bedeutet 10–15 Jahre angestrengter Arbeit. Ich wählte das Kapital. Und begann als Händler. Dann sofort – die Revolution, und kein Ende absehbar. Mein Vater, er war Kutscher in Tula, stellte dem Grafen Bobrinskij die Pferde für die letzte Abreise. Du kanntest den Grafen

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<p>75</p>

ein ewiges Brandmal – вечное клеймо

<p>76</p>

der Tabakkrümel – крошка табака

<p>77</p>

der Speichellecker – подхалим