Über die Kolyma / О Колыме. Книга для чтения на немецком языке. Варлам Шаламов

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Über die Kolyma / О Колыме. Книга для чтения на немецком языке - Варлам Шаламов Russische moderne Prosa

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in diese tödlichen Handschläge des Oberst Garanin geraten.

      Auch an Garanin erinnere ich mich. Viele Male habe ich ihn gesehen im »Partisan«.

      Doch nicht davon, dass ich ihn gesehen habe, will ich erzählen, sondern von den Muskelschmerzen, vom Schmerzen der abgefrorenen Beine, von den Wunden, die nicht heilen wollen, von den Läusen, die sofort zur Stelle sind und den dochodjaga beißen. Ein Schal, voll mit Läusen, taumelt im Licht der Lampe. Aber das war schon wesentlich später, auch 1938 gab es viele Läuse, doch nicht so, wie in der Spezialzone während des Kriegs.

      Die Schüsse, die Pferdeschlitten, die wir ziehen anstelle der Pferde, zu sechst ins Geschirr gespannt. Arbeitsverweigerung – Schüsse über die Köpfe hinweg und das Kommando: »Hinlegen! Aufstehen!« Und Hetze mit dem Hund, der mir die ganze Wattejoppe und die Hosen in Fetzen gerissen hat. Doch zum Arbeiten konnten sie mich auch mit dem Hund nicht zwingen. Nicht, weil ich ein Held bin, sondern weil ich noch die <Kräfte> hatte für den Starrsinn, für den Kampf um Gerechtigkeit. Das war im Frühling 1938. Unsere ganze Brigade wurde gezwungen, <noch> einmal nach Holz zu fahren – zwei weitere Stunden. Versprochen war, dass sie uns freigeben, und jetzt haben sie uns betrogen und schicken uns ein weiteres Mal. Sechs Schlitten. Geweigert haben sich nur ich und der Ganove Uschakow. Und wir sind auch nicht gegangen, man brachte uns in die Baracke, und damit war die Sache beendet.

      Doch auch das ist es nicht, was ich in meinem Gedächtnis suche, ich suche eine Erklärung, wie ich zum dochodjaga wurde. Wovor hatte ich Angst? Welche Grenzen habe ich mir gesetzt?

      Hoffnungen zumindest hatte ich gar keine, ich plante nicht über den heutigen Tag hinaus.

      Was noch? Die Einsamkeit – es ist klar, dass du ein Aussätziger bist, du merkst, dass alle vor dir Angst haben, weil jeder spürt, du gehörst zu den KRTD, den Kürzelträgern. Wir verfügen nicht über unser Schicksal, aber ich werde jeden Tag irgendwohin zur Arbeit aufgerufen, und ich gehe hin. Bei der Arbeit spüre ich – ich packe den Griff der Hacke, von ihm sind meine Finger gekrümmt[58], und ich kann sie nur im Badehaus aufbiegen oder auch im Badehaus nicht – an diese Empfindung erinnere ich mich. Wie ich mit der Hacke fuchtele[59], endlos mit der [unleserl.] Schaufel fuchtle, und es kommt mir nur so vor, als ob ich gut arbeite. Ich habe mich längst in einen dochodjaga verwandelt, auf den man nicht rechnen kann. Ich besitze Geschick und auch Geduld. Es fehlt nur das Allerwichtigste, das Wertvollste für die »Kader« der Kolyma —physische Kraft. Das erkenne ich nicht sofort, allerdings ein für alle Mal, für mein ganzes siebzehnjähriges Leben an der Kolyma. Meine Kraft ist geschwunden und nie mehr zurückgekehrt. Geblieben ist das Können. Eine neue Haut ist gewachsen, nur die Kraft hat mich verlassen.

      Gern würde ich den Tag und die Stunde gewahr werden, als die Kraft erlahmte. Die Vorbereitung begann mit der Etappe, mit der Butyrka-Etappe. Wir fuhren los ohne Geld, allein mit der Brotration. Fuhren fünfundvierzig Tage, plus fünf Tage übers Meer, dann zwei Tage mit dem Auto nach dreitägiger Erholung im Durchgangslager in Magadan, nach drei Tagen ununterbrochener Arbeit im Regen – Gräbenziehen an der Straße in die Wesjolaja-Bucht. Was dachte ich, was erwartete ich 1938? Den Tod. Ich dachte, ich verliere die Kräfte, falle um und sterbe. Und kroch doch, lief und arbeitete, fuchtelte mit der kraftlosen Hacke, schlurfte mit der fast leeren Schaufel und schob die Schubkarre auf dem endlosen Fließband der Goldgrube. Für die Schubkarre bin ich ausgebildet bis zum Tod. Irgendwie fiel mir die Karre leichter als Hacke oder Schaufel. Die Schubkarre ist, gekonnt geschoben, eine große Kunst – all deine Muskeln müssen beteiligt sein an der Arbeit des Karrenschiebers. An die Schubkarre erinnere ich mich, [unleserl.] mit breitem Rad oder schmalem mit großem Durchmesser. Das Schlurfen dieser Schubkarren auf dem zentralen Steg, der Abtransport per Hand über zweihundert Meter. Und ich probierte irgendwelche Karren, stritt mich, riss jemandem das Instrument aus der Hand.

      Das Badehaus als Strafe, denn das Badehaus ist gestohlen von eben den vier Stunden der offiziellen täglichen Ruhepause. So ein Badehaus ist kein Scherz.

      [Ich erinnere mich an] die Grenzenlosigkeit der Erniedrigungen, und jedes Mal erweist sich, man kann noch tiefer erniedrigen, noch heftiger schlagen.

      Die Angehörigen wiederholten ständig – nicht willentlich ihr Schicksal erschweren. Aber wie das tun? Dich umbringen ist nutzlos. Das rettet die Angehörigen nicht vor Strafe. Aber sie bitten, keine Päckchen zu schicken und sich an das eigene Glück, das eigene Gelingen zu halten bis zum Schluss? Das war es.

      Und wo war das Zelt, die neue Baracke, wo ich meinen Partner Gussew bat, mir den Arm mit dem Brecheisen zu brechen, und wo ich, als der sich weigerte, mehrfach mit dem Brecheisen zuschlug, mir eine Beule holte[60], und das ist alles. Alle sterben, und ich laufe und laufe noch immer herum.

      Die Verhaftung im Dezember 1938* hat meine Lage schroff verändert, ich kam ins Gefängnis zur Untersuchung, wurde aus dem Gefängnis entlassen nach der Verhaftung des SPO-Chefs Hauptmann Steblow und kam ins Durchgangslager und schaute mit neuen Augen auf die Lagerwelt.

      Woran erinnert sich der Körper?

      Die Beine werden schwach, auf die obere Pritsche[61], wo es wärmer ist, kommst du nicht mehr hinauf, und du besitzt nicht die Kraft oder besitzt den Verstand, dich nicht mit den Ganoven zu streiten, die die besten warmen Plätze besetzen. Das Gehirn wird schwächer. Die Welt des Großen Landes wird so fern, so unnötig mit all ihren Problemen. Die Zähne wackeln, das Zahnfleisch schwillt[62], und der Skorbut[63] siedelt sich für lange in deinem Körper an. Die Spuren der Pyodermie und des Skorbuts auf meinen Waden und Schenkeln sind noch immer da. Im Jahr 1939 in Magadan wichen alle vor mir zurück im Badehaus – Blut und Eiter flossen aus meinen offenen Wunden. Kratzspuren auf Bauch und Brust, Kratzspuren von den Läusen.

      Ein Fetzen Zeitung, im freien Friseurladen aufgelesen, ruft keinerlei Emotionen hervor, außer der Berechnung – wie viel Machorka-Zigaretten ergibt dieser Zeitungsfetzen. Keinerlei Wunsch, vom Großen Land zu wissen, obwohl wir von Moskau an, schon ungefähr ein Jahr, keine Zeitungen gelesen haben. Viele Jahre werden auch noch vergehen, ehe du voller Furcht und Vorsicht versuchen wirst, etwas aus der Presse zu lesen. Und wieder nicht verstehst. Und die Zeitung wird dir unnötig vorkommen, so wie 1938. Die Nägel habe ich immer abgekaut, abgebrochen, abgespalten – wir hatten jahrelang keine Schere. Skorbutwunden und Pyodermie-Geschwüre erschienen irgendwie sofort auf dem Körper. Wir mieden die Ärzte – der Feldscher Ljogkoduch, Chef des Ambulatoriums im »Partisan«, war berühmt für seinen Hass auf Trotzkisten. Bald wurde Ljogkoduch verhaftet und kam an der Serpantinka um. Aber auch zu den anderen ging ich nicht hin. Nicht, dass ich nicht krank gewesen wäre, meine Kameraden gingen hin und erhielten die Einbestellung vor irgendwelche Kommissionen. Der Effekt war ein und derselbe – der Tod. Ich lag in der Baracke und war bemüht, mich möglichst wenig zu bewegen, oder schon außerstande, mich zu bewegen, schlief oder lag und war bemüht, diese vier Erholungsstunden liegen zu bleiben.

      Ich war ein schlechter Arbeiter und war darum überall an der Kolyma in der Nachtschicht. Schlimmer als der Grubensommer war der Winter. Der Frost. Die Arbeit, wenn auch zehn Stunden – man muss Behälter mit Erde karren, den Torf von der Goldschicht abnehmen —, die Arbeit ist leichter als die sommerliche, aber Bohren, Sprengen und Beladen des Behälters mit der Schaufel[64] und Abfuhr per Hand auf die Halde, mit vier Mann pro Behälter. Sehr quälend ist der Frost. Die Geschwüre schmerzen immerzu. In die guten Brigaden nimmt man mich nicht.

      Alle Brigaden haben während einer Goldsaison, in vier Monaten, ihre Belegschaft zweimal und dreimal ausgetauscht. Am Leben ist nur der Brigadier und sein Helfer, der »Barackendienst« – die übrigen Brigademitglieder sind unter der Erde oder im Krankenhaus, oder

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<p>58</p>

von ihm sind meine Finger gekrümmt – по ней согнуты мои пальцы

<p>59</p>

fuchteln – размахивать, махать

<p>60</p>

j-m eine Beule holen – набить шишку

<p>61</p>

die obere Pritsche – верхние нары

<p>62</p>

das Zahnfleisch schwillt – десны опухают

<p>63</p>

der Scorbut – цинга

<p>64</p>

Bohren, Sprengen und Beladen des Behälters mit der Schaufel – бурение, взрыв и погрузка лопатой в короб