Über die Kolyma / О Колыме. Книга для чтения на немецком языке. Варлам Шаламов
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1938 wollte es im »Partisan« kein einziger Chef mit den »Schwachmatikern«[48] riskieren. Jeder, der eine ärztliche und Sanitär-Bescheinigung hatte, war ein Stachanowmann – so lautet die <Arithmetik>, der die Theorie des »Stachanowarbeiters der Krankheit« entsprang. In unserem Bergwerk war zum Beispiel auch Chrenow, der ehemalige Chef von Kusnezkstroj – um ihn geht es in dem bildhaften Majakowskij-Verschen zu dem Garten, der prangen wird, oder der Gartenstadt.
Der Stachanowarbeiter der Krankheit wurde zu leichten Arbeiten eingesetzt, und er wurde nicht unter dem Knüppel, dem Gewehrkolben der Begleitposten in die Grube getrieben. Aber die Chefs wollten nichts riskieren, die Norm nicht erfüllt – schlecht gearbeitet —, in die RUR mit ihm, in die Rotte mit verschärftem Regime, oder in die BUR, wie die RUR seit einiger Zeit genannt wurde – es scheint den Moskauer Chefs, dass Rotte antisowjetisch klingt und an die Häftlingsrotte erinnert, darum wurde die RUR in allen Bergwerken umbenannt in BUR – Baracke verschärften Regimes.
Für die RUR trug im »Partisan« der Chef ein, sehr rasch – gleich von der Arbeit brachte dich der Begleitposten weg und sperrte dich in die riesige Isolator-Baracke mit Konvoj, mit Posten. Und dorthin kamen viele Menschen. Ihr Aufenthalt in der RUR wurde irgendwie eingetragen, im Buch des RUR-Kommandanten vermerkt, und auch in den Lagerakten der Häftlinge sollte eine Spur hinterlassen bleiben. Aber Spuren in der Akte sind nicht Schläge bei 60 Grad Frost, nicht der <nagende> Hunger[49].
In der RUR gab es auch Essen, das gewöhnliche Lageressen, was für einen Menschen, der nur von der Lagerverpflegung lebt, noch günstiger war, als in der Lagerkantine zu essen, die von Dieben, Brigadieren, Aufsehern und Begleitposten bestohlen wurde.
Die RUR-Verpflegung war für unsereins besser als im Lager.
Die RUR arbeitete beim Holzeinschlag, beim Gräbenziehen – aber ohne Plan, ohne Goldnorm —, also war auch das Arbeitsregime weniger hart.
Ich habe viele Male in der RUR gesessen. Kaum ist meine Zeit dort zu Ende und ich komme ins Bergwerk – heute sind die Arbeits<-Register> schneller —, zu Arm oder Breshnikow, zu Anissimow – und zurück in die RUR.
Und in dieser RUR nun, im »Partisan«, entdeckte ich im Januar oder Februar 1938 in mir eine Eigenschaft …
Der Mensch kennt sich selbst nicht. Die Möglichkeiten des Menschen zum Guten und zum Bösen haben unendlich viele Abstufungen. Die Verbrechen der <Nazis> <kann man> übertreffen – es findet sich immer Neues, noch Schrecklicheres.
Der Grund der menschlichen Seele hat keinen Boden, immer passiert noch Schrecklicheres, noch Gemeineres, als du es gekannt, gesehen und begriffen hast.
Wahrscheinlich hat auch die menschliche Fähigkeit zum Guten unendlich viele Abstufungen – das Wesentliche ist nur, dass der Mensch nicht unter die Bedingungen des höchsten Guten gestellt ist. Der höchsten Probe auf das Gute. In der menschlichen Seele gibt es nicht die absolute Kälte, oder höchstens bei den Ganoven[50], und nicht die Temperatur der Sonne. Auf der Erde würde diese Temperatur die menschliche Seele erbarmungslos verbrennen, ebenso wie die absolute Kälte. Aber nicht nur Gut und Böse. Jede menschliche Eigenschaft hat unendlich viele Ausprägungen – und was positive und was negativ ist, lässt sich im Voraus nicht sagen. Der Weg des Menschen ist das Entdecken seiner selbst, vom ersten bis zum letzten Lebenstag.
Im »Partisan« in der RUR also eröffnete sich mir im Januar 1938 eine objektive Wahrheit.
Der Arbeitstag der RUR war immer gleich, zwei Holztouren vor dem Mittagessen und eine Tour nach dem Mittagessen. Natürlich werden wir nicht kutschiert, sondern eingespannt, acht Mann auf einen Pferdeschlitten – es werden solche Zugriemen gemacht – im Winter, nach Art der Rentierschlitten.
Vier Schlitten fuhren, an der Spitze jedes Schlittens ein Ganove mit Stock, um die Trotzkisten anzutreiben, und Begleitposten gab es zwei – für die gesamte Pferdegruppe.
Man musste die Schlitten etwa zwei Kilometer bis zum Talkessel schaffen; sie dann hochwuchten und auf einem ziemlich steilen Weg über den Schnee schleppen, und dort gab es Stapel – von Baumstümpfen oder Brennholz oder Krummholzwurzeln, all das war schneebedeckt, doch auf dem Berg lag wenig Schnee – alles <vom Wind> davongeblasen.
Man musste alle Schlitten beladen – jeder <Trupp> belud seinen Schlitten getrennt – und sich auf den Rückweg machen, jetzt schon abwärts. Auf der – steilen – Talfahrt war der Schlitten unmöglich zu halten, und man ließ ihn langsam per Hand an den Seilen, an den Zugriemen hinunter.
Dann waren alle auf der Straße und fuhren in die Zone, in die RUR.
Jeden Tag belieferten zwei Schlitten vor dem Mittagessen die Wachabteilung, ohne Einfahrt in die Zone, und nach dem Mittagessen fuhren sie nur ins Lager, in die RUR.
Wir wussten nie, wie unser Arbeitstag endet, und unser Tun und Lassen und das unserer Chefs war eine Art Gewohnheitsrecht, nicht mehr.
Gerade traf im Lager eine zusätzliche Abteilung Begleitposten zur Arbeit ein, die Bewachung des Bergwerks und der Häftlinge wurde an der ganzen Kolyma rasch verstärkt. In unserem Bergwerk war die Baracke für die Wache schon gebaut, und nun füllte sie sich mit Bewohnern.
Anstatt selbst nach Holz zu fahren, hatte die Leitung der Abteilung und des Lagers beschlossen, dass wieder die RUR das Holz transportieren wird und doch nicht die Soldaten es »auf dem Buckel« tragen. Die ganze Kolyma würde lachen.
An diesem Tag hielten sie unsere Pferdebrigade nach der dritten Tour fest und versuchten, uns ein viertes Mal nach Holz zu schicken. Sie machten es noch schlimmer – sie befahlen, diese dritten Schlitten in die Wachabteilung zu schaffen. Das Lager blieb ohne Holz. Alle weigerten sich zu fahren.
Drohungen halfen nichts. Es erschien der Chef der Abteilung, der Lagerchef, der Bergwerkschef, der Bevollmächtigte des NKWD.
Vierzig Leichname standen fest für ihre schattenhaften Häftlingsrechte ein – gestern sind wir dreimal gefahren, und zum vierten Mal fahren wir nicht.
Es <drängte sich> eine Menge von Chefs, Begleitposten, Soldaten und Vorarbeitern, sie versammelten sich, um zu schauen, wie die Geschichte endet.
Unsere gesamte Brigade umringten Soldaten mit Gewehren und Hunden.
»Hinlegen!«
Die Brigade legte sich in den Schnee.
»Aufstehen!«
Die Brigade stand auf.
»Hinlegen!«
»Aufstehen!«
»Hinlegen!«
»Aufstehen!«
Beim Kommando »hinlegen« erklangen Schüsse.
Nach dieser Vorbereitung trat der Bergwerkschef Anissimow vor und sagte, wer nicht ins Holz geht, bekommt eine Haftzeit angehängt.
Alle lagen, und kein Einziger stand auf.
Da trat der Bevollmächtigte hervor – und ließ antreten.
»Du gehst zur Arbeit?«
»Ja.«
»Zur Seite.«
Schließlich
48
»Schwachmatikern« – «слабосилка»
49
der <nagende> Hunger – «сосущий» голод
50
der Ganove – (