Über die Kolyma / О Колыме. Книга для чтения на немецком языке. Варлам Шаламов

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Über die Kolyma / О Колыме. Книга для чтения на немецком языке - Варлам Шаламов Russische moderne Prosa

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jedem Neuankömmling mit besonderem Respekt gezeigt wurde. Hier lebten 75 Mann »Trotzkisten«, die die Arbeit verweigerten. Im August bekamen sie die Produktionsration. Im November wurden sie erschossen.

      Furchtlosigkeit

      Im Januar achtunddreißig wurde unsere Brigade im »Partisan« doch vom Zelt in eine Baracke verlegt. Der Unterschied war gering. Neben dem Zelt hatten die Zimmerleute ein Lärchenholzgerüst[39] montiert, mit einem Balkenabstand von je 3 oder 4 Metern, es in eine Pfahlnut[40] gesetzt, die Pfähle steckten oben und unten in einer großen Einfassung, aus dickeren und längeren Balken montiert als die Balken für die Wände. Aber beide Einfassungen waren ebenfalls zusammengefügt, zusammengesetzt – denn an der Kolyma, noch dazu in der Waldtundra, gibt es keine hohen Bäume. Die längsten Lärchenstämme von bis zu fünfzehn Metern – man hebt sie auf für die Hochspannungsmasten[41] – sind selten, genauso wie die Schneeleoparden, und man nimmt sie nicht für Barackenwände. Jeder Balken jeder Reihe einer solchen Barackenwand wurde auf Moos gestellt, das üppig wuchs in den endlosen Sümpfen der Kolyma. Purpurfarbenes oder hellgrünes Moos bis zu drei Metern Dicke gibt es an der Kolyma überall. Die Moosschicht schwindet und verliert ihre Farbe, sie wird zu braun, schwarz und grau, <verwurzelt> nur auf bewuchslosen Anhöhen, auf flachen Bergen, auf den offenen Flächen der Kuppen.

      Dieses Moos nun, das selbstverständlich jede Brigade für sich holte, an der Kolyma gibt es keinerlei gemeinsame Moosbeschaffung – all das sind die Buchhalterkunststückchen des Lager-Sozialismus. Die Moosbeschaffung wird man mit einem anderen Marschbefehl, auf andere Rechnung machen, oder aber man wird den Gehilfen des Chefs bezahlen.

      Auf Werg wurden die Balken nur in Magadan gesetzt, in der Wohnstätte des USWITL-Chefs oder des Direktors von Dalstroj. Dort wurde Werg vom Großen Land* angefahren.

      Das flauschige Moos trocknete und zerkrümelte schnell und verwandelte sich in Staub. Zwischen den Balken bildeten sich Ritzen, aber diese Ritzen waren für russische Menschen. Jeder sollte, so der Gedanke der Moskauer, nicht der Magadaner Chefs, seine Ritze verkitten oder zum Beispiel mit den eigenen Fingern zustopfen. Sämtliche Baracken waren im Innern voller Flecken.

      Das Gerüst wurde direkt auf die Erde gestellt, auf den Stein, ohne schlaue Tüftelei[42] in Bezug auf die Horizontale oder Vertikale – Lot und Wasserwaage wurden hier wenig genutzt. Wegen der Überraschungen des Dauerfrostbodens grub man die unteren Rahmen niemals in den Boden ein. In der Baracke verlegte man einen Boden aus Treibholz, ebenfalls gewellt und einem Fußboden wenig ähnlich. Eine Decke aber gab es gar nicht. Die Decke war das Dach des erwähnten Segeltuchzelts. Das Segeltuchzelt, eben das, in dem wir im Sommer gewohnt hatten, wurde auf dieses Gerüst aufgezogen, das man neben dem Zelt hingesetzt hatte – und die Winterbaracke war fertig.

      Mitten in der Baracke stand ein Ofen – der einzige Ofen der Baracke. Ein Fassofen. An der Kolyma sind alle Öfen so – solche Öfen fressen viel Holz, dafür lassen sie sich leicht anzünden, und <sie> würden die Baracke schnell erwärmen, wenn die Ritzen nicht wären.

      Als Barackentür dienten einfach Bretter, etwas fester zusammengezimmert und schief angenagelt[43] an die Gummischarniere – Stücke von Autoreifen. Und <ein Bügel> auch innen an der Tür war die Türklinke, in der Länge ähnlich wie die Klinke in Moskauer Restaurants, so dass man sie mit beiden Händen fassen und die angefrorene Tür losreißen konnte. So eine Baracke wurde nicht warm, und wenn man darin hundert Kubikmeter Holz verbrannt hätte. Doch für Holz gab es ebenfalls strengste Normen. Vor allem musste jede Brigade das Holz »auf dem Buckel« herbringen[44], d. h. zwei, drei Kilometer in die Talkessel, in die Berge laufen und sich dort einen Stock nach den eigenen Kräften suchen und ins Lager schleppen. All das wurde nach der Arbeit in der Grube absolviert. Mit jedem Tag waren die Holzstapel weiter entfernt, immer höher in den Bergen, war es immer schwerer hin- und von dort zurückzukommen. Brigadiere und Begleitposten sahen darauf, dass du, Gott bewahre, keinen zu leichten »Stock« nimmst – sie zwangen dich, ihn gegen einen schwereren einzutauschen.

      In der Baracke, an den Türen zur Zone empfingen Aufseher und Lagerältester die Brigade – beide sahen darauf, dass jeder seinen »Stock« hatte und dass er nicht klein, leicht und mickrig[45] war.

      Jedes Mal um dieselbe Abend- oder schon Nachtstunde stellte sich heraus, dass ein Teil des Holzes in die Wachabteilung gebracht werden musste. Einen Teil wählten sie auf der Wache für die Diensthabenden aus, und nur das Allerwenigste – das dünne, kurze, <die Hölzchen> —gelangte in den Ofen der Brigade. Bei jedem Konflikt wurde die gesamte Brigade bei sechzig Grad Frost vom Begleitposten vor der Wache festgehalten. Diese ganze Holzpflicht (da wurde Holz ins Badehaus, in die Wäscherei, in die freie Siedlung gebracht – überallhin) ist eine meiner schlimmsten Erinnerungen. Holz schleppte im Winter die gesamte Brigade, Stachanowleute wie dochodjagi. Bis heute spüre ich das Gewicht irgendeines Stocks, am dicken Stammende[46] gefasst – einen langen Stamm ließ man uns zu zweit schleppen.

      Ich bin groß gewachsen, und das war für mich die gesamte Zeit meiner Haft über Quelle aller möglichen Häftlingsqualen. Mir war die Ration zu gering, ich wurde schneller schwach als alle und sah früher als die anderen, dass die physische Arbeit der Fluch des Menschen ist. Noch dazu ist die Häftlings-, die erzwungene Arbeit auch eine unendliche, alltägliche Erniedrigung. Das wusste ich übrigens auch aus meiner ersten Haftzeit an der Wischera*. Die Unendlichkeit der Erniedrigung durch schwere Arbeit, durch Schläge. Wenn die Ganoven im Goldbergwerk gemeinsam mit der Leitung den Plan aus der Brigade herausprügeln – all das beobachtete ich schon von den ersten Monaten 1938 an.

      In mir lebte mit außerordentlicher Stärke ein unendlicher Geist des Widerstands, des rastlosen Protestes gegen all unser Elend, unsere Erniedrigungen. Diesen Protest, diesen Kampf führt man an der Kolyma nicht kollektiv. Ich habe niemanden aufgerufen, meinem Beispiel zu folgen.

      Aber schon seit dem »Partisan«, seit der ersten <Messung>, seit dem ersten <Vorlauf> all dessen – ich hatte nicht bis zur »Normerfüllung« gearbeitet – beschloss ich: ich werde für diesen Staat nicht arbeiten. Einen Staat, der mich Unschuldigen im Gefängnis gehalten, mich hinter den Polarkreis verbracht hat und mit Hunger, Kälte und Schlägen umbringt. Einen Sklaven wird er aus mir nicht machen. Gebrandmarkt, doch kein Sklav*. Die Norm war nicht zu schaffen, das war nicht nur mir klar, sondern auch meinen Kameraden, all meinen Chefs – den Brigadieren, Vorarbeitern, Begleitposten, dem Minenchef, dem Volkskommissar für Inneres und schließlich meinem Untersuchungsführer in Moskau. Alle wussten, wozu sie mich verdammen.

      Sollen sie mich umbringen, Arbeit werden sie von mir nicht bekommen.

      Ich bin nicht der Erste und nicht der Letzte. Meine katorga-Entdeckung, scheinbar nicht so sehr groß. Doch an der Kolyma gab sie mir geistige Kraft, gab die Kraft zu leben.

      Für das schlimmste Verbrechen an der Kolyma halte ich die Chefarbeit als Brigadier. Andere zum Arbeiten zu zwingen, Menschen zum Arbeiten zwingen, die zum Tod verdammt sind.

      Dieser Ansicht war ich im August 1937 und im Mai 1959 und habe diese Ansicht niemals geändert.

      Die Arbeit offen und öffentlich verweigern – wozu, ebenfalls offen und öffentlich, alle Chefs der gesamten Kolyma aufrufen: »Wenn du nicht arbeiten willst, weigere dich.« Dieses Gekreisch habe ich bis heute im Ohr.

      Für jede Arbeitsverweigerung wurde man 1938, und nicht nur damals, erschossen. Zur Arbeit hat man auszurücken[47]. Das schlimmste Häftlingsverbrechen

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<p>39</p>

das Lärchenholzgerüst – каркас из лиственницы

<p>40</p>

die Pfahlnut – паз столба

<p>41</p>

der Hochspannungsmast – опора высоковольтной линии

<p>42</p>

ohne schlaue Tüftelei(зд.) не мудрствуя лукаво

<p>43</p>

schief angenagelt – косо прибитый

<p>44</p>

das Holz »auf dem Buckel« herbringen – нести дрова на себе

<p>45</p>

mickrig – (зд.) мелкий

<p>46</p>

ein Stock, am dicken Stammende gefasst – палка, взятая с «комельком» (комель – тостый нижний конец бревна)

<p>47</p>

ausrücken – выступить