Über die Kolyma / О Колыме. Книга для чтения на немецком языке. Варлам Шаламов
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Sie hatten einen weiteren Schlitten. Übrig blieben wir drei: ich, Uschakow, ein junger [unleserl.] Dieb, und jemand Drittes mit Artikel achtundfünfzig, mit Bart, an seinen Namen erinnere ich mich nicht. Aber auch dieser Dritte mit Bart wurde von uns losgerissen und rannte den in die Berge aufgebrochenen Schlitten hinterher.
Es begann derselbe Spaß.
»Aufstehen!«
Und Schüsse über dem Kopf.
»Den Hund her!«
Sie hetzten den Hund[51] auf uns. Mir zerfetzte der Hund die Kleidung und zerriss die Mütze, aber Uschakow war heil. Wir standen nebeneinander, Uschakow hielt in der Hand eine zerbrochene Rasierklinge und zeigte sie dem Hund, und der Hund stürzte davon – die Erfahrung ist eine große Sache.
Es war klar, wenn man uns nicht auf der Stelle erschießt, dann bringt man uns in die Baracke. Der Hund wurde zurückgerufen, wir kehrten in die kalte, ausgekühlte Baracke zurück, ohne einen einzigen Holzspan[52], aber das war trotz allem ein Sieg, ein Test.
Am nächsten Tag fuhren wir genau dreimal Holz, zweimal vor dem Mittagessen und einmal nach dem Mittagessen.
Während all dieses Tohuwabohus <mit den Hunden>[53] spürte ich unter anderem auch, dass ich keinerlei Angst empfinde. Und das war eine objektive Wahrheit, die mir im »Partisan« aufgegangen ist. Oft wurde ich später mit Hunden gehetzt und geschlagen, hat man gedroht, mich einzusperren und im Isolator, der Spezialzone, im Karzer zu halten.
Ich habe niemals Angst verspürt. Kürzlich fand ich in einem medizinischen Werk heraus, dass Furchtlosigkeit einfach ein verlangsamter Reflex in der menschlichen Natur ist.
Möglich.
<1969>
Neunzehnhundertachtunddreißig
Ich kann mich an das Gesicht jedes Menschen erinnern, den ich an einem vergangenen Tag gesehen habe, vielfach habe ich zu prüfen versucht, bis in welche Tiefen des Hirns dieser Film denn reicht, und die Bemühungen aus Angst vor Erfolg beendet. Der Erfolg ist fruchtlos. Möglich ist jedoch, nicht mein gesamtes Leben zu erinnern und zurückzuholen, sondern sagen wir das Jahr 1938 an der Kolyma.
Wo liegt es, in welcher Ecke, was davon ist vergessen, was geblieben? Ich sage gleich, geblieben ist nicht das Wichtigste, geblieben ist nicht das Eindrücklichste und nicht das Größte, sondern quasi das Unnötige des damaligen Lebens. Es gab 1938 kein jähes Eintauchen ins Elend, in die Hölle, ich versickerte und versackte dort tagtäglich und stündlich[54], alltäglich und allnächtlich.
Das wohl Schrecklichste, Erbarmungsloseste war die Kälte. Denn Arbeitsbefreiung gab es erst ab 55 Grad. Man haschte nach diesem 56. Grad Celsius, den man an der Spucke bestimmte, die in der Luft gefror, am Geräusch des Frostes, denn der Frost hat eine Sprache, die auf Jakutisch* »Sternenflüstern« heißt. Dieses Sternenflüstern hatten wir uns schnell und grausam angeeignet. Die allerersten Erfrierungen: Finger, Hände, Nase, Ohren und Gesicht, alles, was mit der kleinsten Luftbewegung Frost abbekommt. In den Bergen der Kolyma gibt es keinen Ort, an dem nicht Winde blasen. Die Kälte ist wohl das Schrecklichste. Ich habe mir einmal den Bauch erfroren – der Wind schlug die Wattejoppe auf, während ich in die Kantine lief. Ich bin aber auch nicht gelaufen, an der Kolyma läuft niemand – alle schieben sich nur voran. Ich hatte nicht daran gedacht, als mir in der Kantine der Tabaksbeutel mit Machorka entrissen wurde. Als naiver Mensch hatte ich den Beutel in der Hand gehalten. Ein junger Ganove riss ihn mir aus den Händen und rannte los. Ich rannte ihm hinterher, aber konnte keinen Sprung machen, um meine Beute zu schnappen. Der junge Kerl sprang in die Baracke, ich ihm nach, und sofort wurde ich von einem Schlag mit einem Holzscheit auf den Kopf betäubt – und aus der Baracke hinausgeworfen. Und diesen Schlag habe ich behalten, weil in mir noch irgendwelche menschlichen Gefühle waren, Rache, Wut. Später war all das zerschlagen und verloren.
Ich erinnere mich auch, wie ich hinter einem Tanklaster krieche, er hat Sonnenblumenöl geladen, und mit einem Brecheisen[55] den Tank nicht einschlagen kann – mir fehlen die Kräfte, und ich werfe das Brecheisen weg. Doch die erfahrene Hand eines Ganoven liest das Brecheisen auf, schlägt auf den Tank, und Öl fließt in den Schnee, das wir im Schnee auffangen und gleich mitsamt dem Schnee hinunterschlucken. Natürlich, das meiste räumen die Ganoven ab in Kochgeschirre und Dosen, bis der Laster <wegfährt>. Ich krieche mit irgendeinem Kameraden hinter dieser Ölspur her, sammle die fremde Beute ein. Ich spüre, dass ich dünner und dünner werde, geradezu ausdörre von Tag zu Tag – mir fehlt es an Nahrung, ich bin immer hungrig.
Der Hunger ist die zweite Kraft, die mich in kurzer Frist zerstört, in zwei Wochen vielleicht, nicht mehr.
Die dritte Kraft sind die mangelnden Kräfte. Man lässt uns nicht schlafen, der Arbeitstag beträgt 14 Stunden gemäß Anweisung im Jahr 1938. Ich schleppe mich um die Grube herum, schlage irgendwelche Pfähle ein und hacke mit den erfrorenen Händen ohne Hoffnung, etwas zu schaffen. 14 Stunden plus zwei Stunden für das Frühstück, zwei Stunden für das Mittagessen und zwei Stunden für das Abendessen. Wie viel bleibt dann für den Schlaf, vier Stunden? Ich schlafe, ich lehne mich an, wie es kommt, und wo ich stehenbleibe, schlafe ich gleich ein.
Die Schläge sind die vierte Kraft. Den dochodjaga schlagen alle: der Begleitposten, der Arbeitsanweiser, der Brigadier, die Ganoven, der Kompaniekommandeur, und selbst der Friseur findet es angebracht, dem dochodjaga eine Kopfnuss zu verpassen. Zum dochodjaga wirst du dann, wenn du ausgezehrt bist von der kräfteübersteigenden Arbeit, ohne Schlaf, unter Schwerarbeit, bei fünfzig Grad Frost.
Was wird das Gedächtnis hier auswerfen?
Dass ich mich nicht schnell bewegen kann, dass jedes Hügelchen, jede Unebenheit mir unüberwindlich erscheint. Eine Schwelle zu übertreten[56] fehlt die Kraft. Und das ist keine Verstellung, sondern der natürliche Zustand des dochodjaga.
Besser erinnere ich mich an anderes – nicht an heitere, im Licht erstrahlende Handlungen, an Kummer oder Not, sondern an ganz und gar gewöhnliche Zustände, in denen ich zwischen Wachen und Schlafen lebe. Meine Größe hat mir viel geschadet. Die Verpflegung wird ja nicht nach Größe ausgegeben.
Aber auch all das betrifft alle, wie ich erst später, während der Unterbrechungen* verstand, oder auch erst nach meiner Abreise von der Kolyma. Dort dachte ich über nichts dergleichen nach, und mein Gedächtnis musste Muskelgedächtnis sein – wie am geschicktesten fallen nach dem unausweichlichen Schlag. Ich erinnere mich an keinen einzigen damaligen Wunsch von mir, außer essen, schlafen, ausruhen. An einen Sturm erinnere ich mich, es ist finster, eine Sirene dröhnt, um in der Finsternis den Weg zu weisen, blitzartig zieht sich ein Schneesturm zusammen, und ich erinnere mich, ich krieche durch einen eisigen Hohlweg, habe mich längst verirrt, aber lasse den Passierschein in die Baracke nicht aus den Händen – den »Stock« Brennholz. Ich falle, krieche und stoße plötzlich auf ein Bauwerk, eine Erdhütte am Rand unserer Siedlung. Und – komme in eine fremde Baracke, man lässt mich natürlich nicht rein, aber ich kann mich schon orientieren und laufe nach Hause unter dem Pfeifen des Schneesturms[57]. Diese Baracke ist dieselbe, in der die 75 Verweigerer und Trotzkisten gesessen hatten, die zur Zeit des Schneesturms schon abtransportiert und erschossen waren.
Jeden Tag bringt man uns zum Ausrücken
51
einen Hund auf j-n hetzen – натравить на кого-л. собаку
52
ohne einen einzigen Holzspan – без единой щепки
53
während all dieses Tohuwabohus <mit den Hunden> – во время всей этой кутерьмы с собаками
54
…ich versickerte und versackte dort tagtäglich und stündlich – я уходил, увязал туда каждодневно и повсечасно
55
das Brecheisen – лом
56
eine Schwelle übertreten – перешагнуть порог
57
unter dem Pfeifen des Schneesturms – под свист метели