Ein tiefes Geheimniss. Уилки Коллинз
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Dieses Kind war ein kleines Mädchen namens Rosamunde, zu dieser Zeit beinahe fünf Jahre alt.
Ist er vielleicht dort? – von allen Zimmern des Hauses gerade in diesem?
Schnell, wie dieser Gedanke in ihr erwachte, steckte Sara den Brief, welchen sie bis jetzt in der Hand getragen, in den Busen ihres Kleides und verbarg ihn zum zweiten Male gerade so, wie sie ihn verborgen, als sie das Bett ihrer Herrin verließ.
Dann stahl sie sich auf den Zehen durch die Kinderstube hindurch nach dem innern Zimmer.
Der Eingang desselben war, einer Laune des Kindes zu Gefallen, bogenförmig gemacht und mit bunt angestrichenem Spalierwerk versehen, sodaß er dem Eingang eines Gartenhauses glich. Zwei hübsche Zitzvorhänge, die innerhalb des Spalierwerks angebracht waren, bildeten die einzige Schranke zwischen dem Tagzimmer und dem Schlafzimmer.
Einer dieser Vorhänge war in die Höhe gesteckt und auf die auf diese Weise gebildete Öffnung ging Sara jetzt zu, nachdem sie vorsichtig ihr Licht draußen auf dem Korridor gelassen.
Der erste Gegenstand, der ihre Aufmerksamkeit in dem Schlafzimmer des Kindes auf sich zog, war die Gestalt des Kindermädchens, welches fest schlafend in einem Armstuhl am Feuer zurückgelehnt saß. Als sie nach dieser Entdeckung kühner in das Zimmer hineinzuschauen wagte, sah sie ihren Herrn, mit dem Rücken nach ihr gewendet, an dem Bettchen des Kindes sitzen.
Die kleine Rosamunde war wach und stand im Bett, während sie den Hals ihres Vaters mit ihren Armen umschlungen hielt. Eine ihrer Hände hielt die Puppe, die sie mit zu Bett genommen, über seine Schultern hinweg, die andere hielt sich sanft an seinem Haar fest. Die Kleine hatte bitterlich geweint und sich nun erschöpft, sodaß sie bloß von Zeit zu Zeit noch ein wenig stöhnte, während ihr Kopf müde an der Brust des Vaters ruhte.
Die Tränen standen Sara in den Augen, während sie ihren Herrn und die kleinen Hände betrachtete, die seinen Hals umschlungen hielten. Sie verweilte an dem aufgehobenen Vorhang, ohne auf die Gefahr zu achten, in der sie stand, jeden Augenblick entdeckt und zur Rede gestellt zu werden; sie weinte, bis sie Kapitän Treverton beschwichtigend zu der Kleinen sagen hörte:
»Still, meine gute Rose! Still, mein liebes Kind; weine nicht mehr um die arme Mama. Denke an den armen Papa und suche ihn zu trösten.«
So einfach diese Worte waren, so ruhig und zärtlich sich auch gesprochen wurden, schienen sie doch Sara Leeson sofort aller Selbstbeherrschung zu berauben. Ohne darauf zu achten, ob sie gehört würde oder nicht, drehte sie sich um und eilte in den Korridor, als ob es gälte ihr Leben zu retten. An dem Licht vorbei, welches sie hier hatte stehen lassen, eilte sie, ohne auch nur einen Blick darauf zu werfen, nach der Treppe und mit atemloser Schnelligkeit dieselbe hinab nach der Küche.
Hier kam ihr einer der beiden Diener, welche gewacht hatten, entgegen und fragte sie mit der Miene des Erstaunens und Erschreckens, was es gäbe.
»Ich bin krank – ich bin wie ohnmächtig – ich muß an die Luft,« antwortete sie stotternd und verworren. »Öffnet mir die Gartentür und laßt mich hinaus!«
Der Mann gehorchte, aber zweifelhaft, als ob er glaubte, sie könne nicht ohne Gefahr sich selbst überlassen werden.
»Sie wird immer seltsamer in ihren Mucken,« sagte er, als er, nachdem Sara an ihm vorüber ins Freie hinausgeeilt war, wieder zu seinem Kameraden zurückkam. »Nun, da ihre Herrin tot ist, wird sie wahrscheinlich einen andern Dienst suchen müssen. Ich für meine Person werde mich nicht zu Tode nach ihr sehnen. Du wohl auch nicht ?«
Die kühle milde Luft im Garten bestrich frisch Saras Gesicht und schien die Heftigkeit ihrer Aufregung zu beschwichtigen. Sie bog in einen Seitenweg ein, welcher nach einer Terrasse führte und die Aussicht auf die Kirche des benachbarten Dorfes bot. Das Tageslicht außerhalb des Hauses war schon ziemlich hell. Der neblige Schein, welcher dem Sonnenaufgang vorangeht, schwebte friedlich und lieblich hinter einer Strecke schwarzbraunen Moorlandes den ganzen östlichen Himmel entlang. Die alte Kirche mit ihrer Myrten- und Fuchsienhecke, die den kleinen Kirchhof daneben mit all der Üppigkeit umgab, welche man bloß in Cornwall sieht, ward immer deutlicher und fast ebenso schnell als das Morgenfirmament selbst sichtbar.
Sara stützte sich mit den Armen schwerfällig auf die Lehne eines Gartenstuhls und wendete ihr Gesicht nach der Kirche. Ihre Augen schweiften von dem Gebäude selbst nach dem Kirchhof daneben, verweilten hier und sahen, wie das Licht über dem einsamen Asyl, wo die Toten in Frieden ruhten, immer wärmer und wärmer ward.
»O, mein Herz, mein Herz,« sagte sie. »Woraus muß es gemacht sein, daß es nicht bricht!«
Sie blieb eine Weile so auf den Stuhl gestützt stehen, schaute mit wehmütigem Blick nach dem Kirchhof und dachte über die Worte nach, welche sie Kapitän Treverton zu dem Kinde hatte sagen hören. Sie schienen – wie jetzt auch alles andere in ihren Gedanken zu tun schien – in Zusammenhang mit dem Brief zu stehen, der auf Mistreß Trevertons Sterbebett geschrieben worden. Sie zog ihn wieder aus dem Busen und knitterte ihn zornig in den Fingern zusammen.
»Immer noch in meinen Händen! Immer noch von keinem andern Auge gesehen als dem meinigen!« sagte sie, indem sie auf das zerknitterte Papier herabblickte. »Ist die Schuld aber mein? Wenn sie jetzt noch lebte, wenn sie gesehen hätte, was ich sah – wenn sie gehört hätte, was ich hörte – könnte sie dann von mir erwartet haben, daß ich ihm den Brief geben würde?«
Ihr Gemüt ward durch den Gedanken, den ihre letzten Worte aussprachen, anscheinend beruhigt. Sie bewegte sich gedankenvoll von dem Gartenstuhl hinweg, ging über die Terrasse, einige hölzerne Stufen hinunter und folgte einem durch die Anlagen gebahnten Pfad, der von der östlichen Seite des Hauses nach der nördlichen führte.
Dieser Teil des Gebäudes war seit länger als einem halben Jahrhundert unbewohnt und vernachlässigt gewesen. Zu Zeiten des Vaters des Kapitäns war die ganze Reihe der nördlichen Zimmer ihrer schönsten Gemälde und ihrer schönsten Möbels beraubt worden, um die westlichen Zimmer dekorieren zu helfen, welche jetzt den einzigen bewohnten Teil des Hauses bildeten und die für die Bequemlichkeit der Familie und der Gäste, welche hierherkamen, um vielleicht einige Zeit zu verweilen, auch vollkommen ausreichend waren.
Das schloßähnliche Gebäude hatte ursprünglich die Form eines Vierecks gehabt und war stark befestigt gewesen. Von den vielen Verteidigungswerken des Platzes war bloß noch eins übrig – ein plumper, niedriger Turm, von welchem, sowie von dem nahgelegenen Dorfe das Haus seinen Namen Porthgenna Tower ableitete, und welcher an dem südlichen Ende der westlichen Front stand.
Die Südseite selbst bestand aus Ställen und Nebengebäuden mit einer verfallenen Mauer vor derselben, welche rückwärts in östlicher Richtung rechtwinklig an die Nordseite stieß und auf diese Weise das Viereck vervollständigte, welches der ganze Umriß des Gebäudes darstellte.
Die äußerliche Ansicht der Reihe nördlicher Gemächer vor dem verwilderten, vernachlässigten Garten unten verriet sehr deutlich, daß viele Jahre vergangen waren, seitdem irgend ein menschliches Wesen sie bewohnt. Die Fensterscheiben waren an manchen Stellen zerbrochen und an andern dicht mit Schmutz und Staub bedeckt. Hier waren die Läden ganz, dort waren sie bloß halb geöffnet. Der sich selbst überlassene Efeu, die wilde, aus den Spalten des Mauerwerks hervorwuchernde Vegetation, die Draperien von Spinnengeweben, das Geröll von Holz, Backsteinen, Kalk, zerbrochenem Glas, Lumpen und Fetzen schmutzigen Tuches, welches unter den Fenstern lag, alles erzählte dieselbe Geschichte von Verfall und Vernachlässigung.
In Folge ihrer Lage schattig, hatte diese verfallene Seite des Hauses ein finsteres, kaltes, winterliches Ansehen, selbst an dem sonnigen Augustmorgen, wo Sara Leeson sich in den verlassenen nördlichen