Jüdisches Leben in Wort und Bild. Леопольд фон Захер-Мазох
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Die Sonne war untergegangen. Die Nebel des düsteren Winterabends breiteten sich langsam um die Thürme und Dächer der kleinen Stadt, welche tief im Süden Russlands zwischen wilden Waldrevieren, Sümpfen und Steppen verloren war. Der Sturm hatte überdies hohe Schneewälle aufgeführt, welche die Menschen in ihren kleinen hölzernen Häusern gefangen hielten. Im letzten Abendstrahl schienen die Frostblumen an den kleinen Fenstern noch einmal in den Farben des Frühlings aufzublühen.
Dann erlosch auch dieser armselige Schimmer und graue eintönige Dämmerung erfüllte das weite Gemach, in dem der greise Rabbi Abdon sass, vertieft in seltsame Gedanken und Erinnerungen.
Die alte Magd kam leise herein, zündete die Lampe an und verschwand wieder unbemerkt, wie sie gekommen. Der Rabbi regte sich keinen Augenblick. Das flackernde Licht tauchte all' die heiligen und geheimnissvollen Dinge, die ihn umgaben, die Gesetzrollen, die Lederbände des Talmud, den Sochar, das Buch des Glanzes und den Ilan, den Baum des Lebens, an der Wand in eine Art Verklärung, aber der Greis sah sie heute nicht. Sein hagerer Körper, in sich zusammengesunken, schien leblos, sein mit Runzeln bedecktes Antlitz erstarrt, nur die grossen Augen verriethen, dass sein Geist noch nicht entflohen war.
Er fragte sich in diesem Augenblick, warum er noch lebe? Er hatte ein gottesfürchtiges tadelloses Leben hinter sich, und er hatte alle Geheimnisse der Kabbalah erschlossen, ihn erwartete die Seligkeit der Frommen und der grosse Lohn, welcher jedem zugesagt ist, der sich mit der Wissenschaft beschäftigt, die Gott selbst dem Adam überliefert haben soll. Was half ihm aber seine Frömmigkeit? was half ihm sein Wissen. Er war allein, einsam in einer Welt, die er nicht verstand, und die ihn nicht verstand, verlassen, ohne Liebe, unter Menschen, die ihm nur mit heiliger Scheu und Ehrfurcht nahten.
Was nützten ihm am Rande des Grabes Gematria, Notarikon und Themurah, die Lehre, mit deren Hilfe man den geheimen Sinn entziffert, den Gott in die heilige Schrift gelegt? Was nützte es ihm, dass er in stillen Nächten den Urquell des Lichtes, des Geistes und des Lebens, den Verborgendsten der Verborgenheiten wie hinter einem Schleier sah? dass er im Menschen die Welt im Kleinen wie in einem Zauberspiegel betrachten konnte? dass er mit den zehn Sephirot und den vier Welten vertraut war, dass die Engel bei ihm aus- und eingingen? Wozu diente ihm seine Macht über die Geister und Dämonen? Er konnte Samael und Aschmadin bannen, wenn er wollte und die schöne Lillith zwingen seinen Geboten zu gehorchen, aber er war machtlos gegen den Nebel, der sich um ihn zu Gestalten zusammenballte, gegen die Stimmen, die in der Stille des Abends heimlich zu flüstern begannen.
Ja, er war allein mit seinen todten Schätzen, und er hatte doch einst ein geliebtes Weib gehabt, schön und tugendsam, und einen Sohn – ja dieser Sohn – wo war er? lebte er noch? oder war er geschieden von der Erde wie seine Mutter?
Sie war ein stilles, reizendes Geschöpf, diese kleine Frau, die schlank und scheu wie ein Reh durch seine Zimmer schlüpfte, wenn er in seine Folianten versunken war. Selten nur stahl sich ihr Lächeln wie Mondlicht in seine Seele, meist beachtete er sie gar nicht. Vergebens schmückte sie ihre anmuthigen Glieder, vergebens liess sie ihre helle Stimme, ihr verschämtes Lachen in diesem finstern Raum ertönen, in dem sich ein kleiner Menschengeist vermass die Pforten des Paradieses und der Hölle aufzureissen.
Und sie hatte ihn dennoch geliebt, aber einsam, mit ihrem armen, darbenden Herzen war sie zu früh dahingewelkt, und eines Tages lag sie mit ihrem letzten Lächeln auf den kalten Lippen da.
Er hatte sie verloren für immer.
Und jetzt! jetzt hätte er den kleinen Sammtpantoffel an ihrem Fusse küssen mögen, wenn er nur wieder einmal ihren leisen Schritt hätte vernehmen können inmitten dieser mit Staub und Moder bedeckten Welt, die ihn umgab.
Aber sein Sohn! Er lebte vielleicht noch, nur weit von ihm, sehr weit in der Ferne.
Er war sein ganzer Stolz gewesen. Er sollte nicht allein der Erbe seines Namens, aller seiner Habe werden, ein ungleich kostbareres, heiliges Vermächtniss wollte er ihm hinterlassen, seine ganze Weisheit, das Gold der Wissenschaft, das er aufgespeichert, alle Geheimnisse, die ihm die Zauberkraft der Kabbalah aufgeschlossen hatte, und er hatte dies alles verschmäht um eines thörichten Mädchens, um einiger grünen Bäume und um eines Feldes voll reifender Aehren willen.
Zum Rabbiner war er bestimmt, der kleine Simon, aber er liebte die Stubenluft nicht. Wenn der erste Sonnenstrahl auf den Lederband fiel, vor dem er sass, war es wie ein goldener Faden von Feenhand gewoben, der ihn hinauszog und hatte er erst diese schwarze Erde betreten, die der russische Bauer so zärtlich liebt, da fühlte er gleich diesem den Athem der treuen unwandelbaren Freundin, der einzigen, die uns jede Sorgfalt, jeden Dienst tausendfach zurückgiebt, da hörte er in den säuselnden Halmen, in den rauschenden Blättern die geheimnissvolle Stimme der ewigen Mutter.
»O! ich kenne ein schöneres Buch«, sprach er dann zu seinem Vater, auf den Talmud deutend, »das hat Gott selbst geschrieben, darin ist der grüne Wald zu sehen und Sonne, Mond und Sterne.«
Wenn die Bauern ackerten, folgte er von Ferne gleich den Krähen ihrem Pfluge, und wenn die Sicheln zur Erntezeit erklangen, verbarg er sich hinter den Garben und weinte.
Rabbi Abdon hatte ihn schon als Kind verlobt mit der Tochter eines reichen Mannes, von gleich edlem Stamme, des Kaufherrn Jonathan Ben Levy in Amsterdam, dessen Schiffe bis nach Indien segelten.
Als Simon aber herangewachsen war, nahm eine Andere sein Herz gefangen.
Es war ein armes Mädchen, Darka Bariloff. Ihre Eltern besassen eine elende Schenke in der Vorstadt draussen und einen kleinen Acker.
Auf diesem Acker hatte Simon das schöne kräftige Mädchen mit dem Leib einer Judith und dem holden, von rothblonden Flechten gekrönten Haupt einer Ruth, das erste Mal getroffen. Er war mit seinem Sohne Luchot-Haberith hinausgegangen in die Felder, um sich in den Geist der Kabbalah zu versenken und sah plötzlich das jüdische Mädchen, das hinter dem Pfluge ging, vor den ein mageres kleines Pferd gespannt war. Da warf er den kostbaren Band weit von sich, ergriff den Pflug und setzte die Furche fort, welche Darka begonnen hatte, und als die Arbeit gethan war, sassen sie auf dem Feldrain und sprachen zusammen ernst und verständig, während sie aus Feldblumen einen Kranz wand, und zwischen ihnen blühte unsichtbar eine Wunderblume auf, die Blume der Liebe.
Der alte Rabbi erinnerte sich auch des Tages, wo es zu der verhängnissvollen Auseinandersetzung mit seinem Sohne kam. Er sah ihn in diesem Augenblicke vor sich mit seinen leicht gerötheten Wangen und seinen leuchtenden Augen. Jedes der harten Worte, die er damals im Zorn herausgestossen, war noch in seinem Gedächtniss geblieben, und er hörte in dieser einsamen Stunde der Verlassenheit noch einmal die Antwort seines Simon, der ruhig und ehrerbietig, aber muthig und begeistert wie ein Prophet sprach:
»Der Jude«, rief er zuletzt, »hat sich die unglückliche Lage, in der er sich heute noch in den östlichen Ländern befindet, nicht selbst geschaffen; er wurde durch seine Verfolger in die engen, finsteren Strassen des Ghetto gesperrt und von jeder Arbeit, jedem anderen Berufe ausgeschlossen, gezwungen sich ausschliesslich dem Handel zu widmen. Es ist aber unsere Schuld, wenn wir heute diese zweite babylonische Gefangenschaft verlängern, die Ketten sind gesprengt, die Schranken gefallen. Wer es mit seinem Volk, seinem Glauben ehrlich meint, der verlasse diese finstren Winkel, in denen nur ein kleinlicher, engherziger Geschäftsgeist zu blühen vermag, oder eine düstre, grillenhafte, unfruchtbare Wissenschaft. Heute liegt das Feld der geistigen Arbeit offen vor uns, offen jede Art menschlicher Thätigkeit. In Odessa haben erleuchtete Männer unseres Stammes sich an die Spitze einer Bewegung gestellt, welche den Juden vor allem zu der Landwirthschaft, zum Ackerbau zurückführen soll, welche das Volk Israel im gelobten Lande glücklich