Dr. Norden Staffel 6 – Arztroman. Patricia Vandenberg
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»Lass mich mal ran, Marianne.« Das ließ sich die Tortenkünstlerin nicht zwei Mal sagen und sah Daniel dabei zu, wie er die Wagentür öffnete und sich über die Verletzte beugte. Er wusste genau, was zu tun war, und erkannte innerhalb kürzester Zeit, dass der Zustand der Frau trotz der Bewusstlosigkeit nicht lebensbedrohlich war.
»Sieht schlimmer aus, als es ist«, teilte er Marianne mit, als das Martinshorn zu hören war.
Kurz darauf hielt der Rettungswagen hinter dem Unfallwagen, und die Sanitäter sprangen aus dem Wagen.
»Die Frau ist bewusstlos. Ich tippe mal auf ein Schleudertrauma. Außerdem konnte ich Prellungen und Schnittwunden feststellen, die genäht werden müssen. Innere Verletzungen sind nach bisheriger Erkenntnis auszuschließen«, teilte Daniel den Kollegen seine bisherigen Erkenntnisse mit.
»Saubere Arbeit«, lobte Dr. Heinze, der den Kollegen von früheren Einsätzen und seiner Arbeit in der Behnisch-Klinik kannte. »In Zukunft schicken wir Sie als Vorhut zu den Unfällen. Dann haben wir keine Arbeit mehr«, witzelte er, nachdem er den Kollegen Anweisungen zur Weiterversorgung der Patientin gegeben hatte.
»Das könnte Ihnen so passen«, ging Dr. Norden auf den scherzhaften Tonfall ein. Aus eigener Erfahrung wusste er, wie wichtig es war, emotionalen Abstand zu den Schicksalen zu halten, mit denen die Ersthelfer tagtäglich konfrontiert wurden. »Als Entschädigung würde ich Sie jetzt liebend gern zu Kaffee und Torte einladen. Aber leider müssen Sie jetzt weiter.«
»Freuen Sie sich nicht zu früh! Ich komme auf das Angebot zurück!«, warnte Dr. Heinze mit erhobenem Zeigefinger und verabschiedete sich.
Daniel sah dem Rettungswagen nach, bis er um die Ecke verschwunden war. Polizeibeamte waren inzwischen am Unfallort angelangt und machten sich an die Spurensicherung, sodass der Arzt sich zunächst um Tatjana kümmern konnte.
Er fand seine Schwiegertochter in spe gemeinsam mit Marianne in der Backstube, wo sie immer noch zitternd an der Arbeitsplatte lehnte. Als sie den Vater ihres Freundes sah, gab es kein Halten mehr.
»Oh, Daniel, gut, dass du hier bist!« Sie stürzte auf ihn zu und umschlang ihn wie eine Ertrinkende.
»Ruhig, mein Mädchen. Ganz ruhig«, redete Dr. Norden mit der Samtstimme auf sie ein, die er für solche Fälle reserviert hatte. »Alles ist gut.«
»Dann … dann ist sie nicht tot?«, stammelte Tatjana und hob den Kopf von seiner Schulter.
Mit dem Ärmel wischte sie sich über das Gesicht und sah den Vater ihres Freundes an.
»Natürlich nicht.« In ihren Augen konnte er lesen, was in ihrem Kopf vor sich ging. »Zum Glück wiederholt sich nicht immer alles. Das Schicksal schreibt viele verschiedene Bücher«, versuchte er, sie zu beruhigen.
Tatjana biss sich auf die Unterlippe und nickte. Daniels Anwesenheit beruhigte sie sichtlich.
»Es tut mir leid. Du weißt ja, dass ich normalerweise nicht so ein Weichei und schon gar nicht hysterisch bin. Aber ich hatte einfach Angst. Als meine Mutter damals …«, sie stockte, unsicher, ob sie die Wahrheit aussprechen konnte, »als meine Mutter damals ums Leben gekommen ist, sah es genauso aus. Zumindest bilde ich mir das ein.« Sie hielt inne und dachte nach. »Seltsam. Ich habe diese Bilder im Kopf, obwohl ich selbst bei dem Unfall erblindet bin. Wie kann das sein?« Erst in diesem Augenblick wurde sie dieses Rätsel gewahr.
»Möglich, dass dein Gehirn Bilder abgespeichert hat, die du in Bruchteilen von Sekunden gesehen hast, bevor du selbst verletzt wurdest.« Das war die einzige Erklärung, die Dr. Norden zu diesem Phänomen hatte, und kurz musste er an Janine und ihre Gruselgeschichte denken. Vielleicht glaubte man wirklich erst dann an diese Erscheinungen, wenn man keine passende Erklärung mehr parat hatte.
»Kann sein«, räumte Tatjana ein und konnte schon wieder lächeln.
Allmählich ging es ihr besser, und sie bot ihrem Schwiegervater in spe eine Tasse Kaffee an. Daniel überlegte kurz, entschied sich dann aber dafür, das Angebot anzunehmen, bis er ganz sicher sein konnte, dass sich Tatjana wieder gefangen hatte.
»Wie ist der Unfall überhaupt passiert?«, erkundigte er sich. »Der Regenguss war doch schon vorbei und die Sicht wieder klar. Oder?«
Die Kaffeemaschine blubberte und zischte, und Tatjana nickte.
»Marianne stand zufällig am Fenster und hat rausgeschaut. Weit und breit war niemand zu sehen. Keine Menschenseele war auf der Straße.« Sie stellte den dampfenden Kaffee auf den Tresen.
»Kein Wunder! Bei dem Wetter.« Daniel löffelte Zucker in seine Tasse und rührte um.
»Auch kein anderes Auto. Die Frau ist schnurstracks gegen den Ampelmasten gefahren. Einfach so.« Sich selbst kochte Tatjana eine heiße, extra dicke Schokolade. Süßigkeiten waren immer noch das beste Mittel, um die Nerven zu beruhigen. Davon war sie nach wie vor felsenfest überzeugt und ließ sich auch nicht mit den besten Argumenten vom Gegenteil überzeugen.
»Das heißt, dass Marianne die einzige Zeugin ist?«, fragte Dr. Norden mit Blick auf die Beamten, die sich auf den Weg zur Bäckerei machten, um dort die Zeugin zu befragen.
»Ich denke schon.« Trotz ihres eingeschränkten Sehvermögens hatte Tatjana bemerkt, dass Daniels Aufmerksamkeit für einen kurzen Moment abgelenkt worden war.
Als gleich darauf das Glöckchen über der Tür aufgeregt klingelte, ahnte sie sofort, wer sie besuchen kam.
»Aber vielleicht hat die Polizei ja andere Erkenntnisse gewonnen«, überraschte sie Daniel ein weiteres Mal mit ihrem fast unheimlichen Gespür.
»Du wirst es gleich erfahren.« Er leerte seine Tasse in einem letzten, großen Zug und stellte sie dann eigenhändig in die Spüle hinter dem Tresen. »Kann ich dich allein lassen oder soll ich bleiben? Ich würde gern in die Klinik fahren und herausfinden, wie es der Patientin geht.«
Das Lächeln, das auf Tatjanas Gesicht erschien, war dankbar.
»Danke, es geht schon wieder. Die Dosis Norden zeigt ihre Wirkung. Jetzt kann mir nichts mehr passieren!«, versprach sie und verabschiedete ihren Schwiegervater in spe mit einer Umarmung, die ihm beinahe die Luft abschnürte.
*
Unterdessen war die verunfallte Frau in der Klinik angekommen. Der Notfallarzt Dr. Weigand übernahm die Versorgung der Patientin.
»Wir bringen Sie in den Schockraum«, entschied er, nachdem er den Bericht des Rettungsarztes entgegen genommen hatte. »Ich brauche sofort Röntgen und Ultraschall. Kommt noch ein Unfallgegner?«, wandte er sich an Schwester Elena, die den Transport der Patientin in den Schockraum begleitete.
»Nein, der Sani hat gesagt, dass weit und breit nichts zu sehen war. Nur eine Frau hat den Unfall beobachtet. Offenbar ist die Patientin ohne Not einfach in die Ampel gefahren.«
»Seltsam.« Matthias Weigand kannte und schätzte die Bäckerei ›Schöne Aussichten‹ »Dabei ist die Straße vor dem Café doch ziemlich belebt.«
»Bei dem Regenguss vorhin haben es wohl die meisten vorgezogen, daheim zu bleiben«, erwiderte Elena und wartete, bis sich die automatischen Türen des Schockraums öffneten.
»Regenguss?«,