Menschen, die Geschichte schrieben. Christine Strobl
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Als Projektionsflächen unterschiedlicher Imaginationen sind auch die Geschichten von Melusinen, Undinen und anderen Feen, die sich mit sterblichen Männern verbinden, zu erklären, wie BEATE KELLNER am Beispiel des Melusinen-Romans Thüring von Ringoltingens aufzeigt. Die Entstehungsgeschichte des Werks verweist wiederum auf eine europäische Tradierung von Erzählstoffen, die im kulturellen Gedächtnis der Epoche bewahrt werden sollten. Die Frage nach dem Ursprung eines adeligen Geschlechts wird bei Ringoltingen um die Frage nach dem Ursprung sozialer Gemeinschaften erweitert; das Mythische der Melusinenfigur zwischen Mensch und Dämon, zwischen Mensch und Tier, wird jedoch, so Kellner, zur „Chiffre der Unergründlichkeit des Ursprungs“ an sich.
An der Abstammung von Demetrius als totgeglaubtem Sohn des Zaren Iwan IV. hatten, so der Historiker JAN KUSBER, dessen Zeitgenossen nicht unbegründete Zweifel. Nach heutigem Stand der Forschung handelte es sich tatsächlich um einen „falschen“ Zaren. Die Konfliktlage zwischen katholisch geprägter, polnischlitauischer Adelsrepublik und orthodoxem Moskauer Zarentum sowie wirtschaftliche Nöte spitzten sich in der sogenannten Zeit der Wirren jedoch so zu, dass es dem vermeintlichen Nachfolger möglich war, sein Recht auf den Zarenthron einzufordern. Insbesondere die Orientierung nach Westen, von der Demetrius seine Zeitgenossen zu überzeugen versuchte, trug zur europaweiten Mythisierung des Herrschers über das Moskauer Reich bei, das bereits unter Iwan IV. mehr und mehr in die mittel- und osteuropäische Wahrnehmung gerückt war.
Mit dem Narren als Symbolfigur einer Welt des Umbruchs stellt Werner Mezger an ausgewählten Beispielen der Bildtradition eine Schlüsselfigur der Imagination vor, die sich von der noch mittelalterlich geprägten apokalyptischen Figur zu einem beliebig verfügbaren und höchst vielseitigen Konzept weiterentwickelt hatte. Ob im Lob der Torheit von Erasmus von Rotterdam oder im Narrenschiff von Sebastian Brant: In der Renaissance klingen nun selbstironisierende Töne an, die mehr und mehr die Gesellschaft der Zeit an sich in Frage stellen und an ihr so Kritik üben. Die Entwicklung einer reich ornamentierten Narrensprache in den Schriften zeigt sich auch in der bildenden Kunst, und trägt auf der Suche nach neuen Ausdrucksformen bereits manieristische Züge. Mit dem beginnenden 17. Jahrhundert beginnt der Narr seinen Spiegel umzudrehen und der Welt vorzuhalten, damit sie ihre Verkehrtheit darin erkenne.
Die in diesem Band zusammengestellten Beiträge wurden im Wintersemester 2005/06 an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt als Vorträge gehalten. Die Konzeption wie die organisatorische Durchführung der Vortragsreihe lag in den Händen von Verena Dolle, Andreas Hartmann, Michael Neumann, Alexei Rybakov, Almut Schneider, Christine Strobl und Angela Treiber. Für die äußerst kompetente redaktionelle Bearbeitung des Bandes sei Andreas Fuchs, für die sehr sorgfältige Durchsicht des Manuskripts sowie die Überprüfung der bibliographischen Angaben sei Benjamin Kraus sehr herzlich gedankt.
ANMERKUNG
1 François Rabelais, Der heroischen Taten und Raten des guten Pantagruel, Viertes Buch. Dt. Übersetzung Gottlob Regis. Darmstadt, Wissenschaftl. Buchgesellschaft, 1964 [1548/ 1552], S. 158.
DOKTOR FAUSTUS
Tobias Döring
EINLEITUNG
Wir sind am Kaiserhofe Karls V., des mächtigsten Herrschers im 16. Jahrhundert, Regent über ein Weltreich, dessen Ausdehnung die Kontinente wie die Ozeane umspannt. Bei aller Fülle seiner Macht und Herrlichkeit hat dieser Kaiser aber dennoch unerfüllte Wünsche, geheime Leidenschaften und Sehnsüchte, denen er im Herzen nachhängt. Da trifft es sich, dass eines Sommerabends ein Wahrsager erscheint. Ein fahrender Gelehrter, der, wie es heißt, in den Schwarzen Künsten weit gekommen sei, macht am Kaiserhof Station und kommt dort gerade recht. Nach Tisch lässt ihn der Kaiser zu sich holen, um seinen größten Wunsch erfüllt zu sehen. „Sehen“ ist hier durchaus im Wortsinn zu verstehen, denn eben das ist es, was Karl begehrt. Es drängt ihn, mit eigenen Augen zu sehen, wovon die Chroniken und Bücher so lange schon erzählen, er will es endlich einmal selbst erfahren: die Herrlichkeit des größten Herrschers der Antike, jenes mächtigen Eroberers und genialen Feldherrn, dessen Reich sich über alle Grenzen der seinerzeit bekannten Welt erstreckte und dessen legendärer Glanz sogar dem Kaiser unvorstellbar scheint. Er will Alexander den Großen und seine Gemahlin sehen „in Form vnd Gestalt / wie sie in ihren Lebzeiten gewesen“ sind.
Doktor Faustus; Radierung von Rembrandt van Rijn
Diesen Herzenswunsch kann Doktor Faustus – denn um Faustus handelt es sich bei dem fahrenden Gelehrten – untertänigst und sehr gern erfüllen. Er verlässt das kaiserliche Gemach, um sich, wie es heißt, „mit seinem Geist zu besprechen“, kehrt zurück und bittet um Ruhe. Kurz darauf öffnet sich wie von Geisterhand die Tür, und vor des Kaisers Augen zeigt sich wahrhaft die Gestalt des Großen Alexander, ganz im Harnisch, aber unverkennbar, und erweist demütig seine Reverenz. Kaiser Karl ist tief bewegt. Er will aufstehen und die Erscheinung anfassen, doch Faustus hält ihn strikt zurück: Jede Berührung, sagt er, sei verboten. Lediglich einen intimen Blick darf der Kaiser auf den Körper Alexanders werfen. In den Geschichtsbüchern heißt es nämlich, Alexander trage hinten am Nacken ein Körpermal, eine Warze, die der Kaiser nun zur Probe selbst in Augenschein nehmen will. Und tatsächlich findet sich dort das Erkennungsmal. Der Blick auf die verborgene Stelle bezeugt: Hier steht Karl von Angesicht zu Angesicht mit seinem großen Vorgänger, dem antiken Welteroberer, und „hiermit ward dem Keyser sein Begeren erfüllt“.1 Damit endet diese Szene.
Was trug sich hier zu? Was genau mag sich, wenn wir dem zitierten Bericht folgen, damals am Habsburger Hof, dem Machtzentrum der Renaissance, wohl ereignet haben? Wie können und wie sollen wir das zauberische Rollenspiel, von dem die Rede ist, verstehen?
Solchen Fragen will dieser Beitrag über Doktor Faustus nachgehen und im Weiteren versuchen, die Figur, die uns in der genannten Form entgegentritt und seither viele große Auftritte in der europäischen Kulturgeschichte gehabt hat, in ihren zeitgenössischen Kontext einzuordnen. Als vorläufige Antwort darauf, wie die geschilderte Begegnung aufzufassen ist, soll uns im Weiteren folgende These leiten: Was wir in dieser Szene beobachten können, ist ein Mythos der Renaissance – mehr noch, es ist der Mythos der Renaissance, der sich hier in Szene setzt. In Doktor Faustus und den seltsamen Erscheinungen, die seine Kunst heraufzubeschwören vermag, sehen wir womöglich, wie die Renaissance sich selber sah: als Erfüllung lang gehegter Wünsche, als Begegnung mit den selbst gewählten Vorfahren und Vorbildern, d. h. als wirkungsmächtige Vergegenwärtigung der Antike. Dass aber der damals Mächtigste, der Kaiser, dabei auf so fragwürdige Vermittlerdienste wie die eines fahrenden Gauklers und Gelehrten angewiesen bleibt, zeigt sowohl das Faszinierende wie auch das Prekäre des gesamten Unternehmens.
Der Faustus-Mythos ist deutschen Lesern ja zumeist in seiner dramatischen Fassung bekannt, d. h. als Spielvorlage fürs Theater, zumal in der umfassenden und tiefgreifenden Ausgestaltung durch Goethes Lebenswerk.