Menschen, die Geschichte schrieben. Christine Strobl
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Genau darauf kam es offensichtlich an. Um dieses Endes willen wird die gesamte Historia erzählt, von diesem Schrecken leitet sich ihre Motivation her, das Leben des schändlichen Doktors für christliche Leser auszubreiten. Man nennt dieses Verfahren eine Motivation „von hinten“,6 um die besondere Erzählweise und Logik solcher Exempelgeschichten zu charakterisieren. Es ist dieselbe Erzählweise und Logik wie von Heiligenlegenden, bei denen die Zentralfigur des Heiligen ja ebenfalls nur dazu dient, ein beispielhaftes Lebensmuster vorzuführen, so dass alles Geschehen sich einzig darauf ausrichtet, was am Schluss geschieht. Bei Heiligen ist dies in der Regel der Märtyrertod sowie die göttliche Errettung ihrer Seele. Bei Faustus ist es umgekehrt die Höllenfahrt: Nicht der Herrgott, sondern der Teufel holt sich seine Seele. Auf diesen Schreckensschluss läuft sein gesamtes Leben zu. Die Historia, so lässt sich also sagen, ist eine invertierte Heiligenlegende, d. h. eine Umkehrung der Wertungsperspektive unter Beibehaltung der erzählerischen Grundstruktur. Dieser Faustus ist ein Negativexempel, ein Abschreckungsbeispiel, an dem das Schema der Heilsgeschichte ex negativo bekräftigt werden soll.
So jedenfalls müssen wir, auf der Grundlage des Titels wie des Endes, das Erzählprogramm des anonymen Autors der Historia von 1587 wohl verstehen. Der weitere Titel formuliert genau in diesem Sinn:
Mehrertheils aus seinen eygenen hinderlassenen Schrifften / allen hochtragenden/ fürwitzigen und Gottlosen Menschen zum schrecklichen Beyspiel / abscheuwlichen Exempel / und treuwherziger Warnung zusammen gezogen und in den Druck verfertiget.
Was das Programmatische betrifft, lässt diese Ankündigung keine Fragen offen. Dennoch wird sich zeigen, dass die Historia gerade deshalb so fragwürdig ist, weil ihr erklärtes Programm nicht durchweg aufgeht und womöglich sogar ins Gegenteil umschlagen kann. Dazu nachher mehr.
Zunächst zu einer näherliegenden und dringlicheren Frage: Wer ist oder war dieser Doktor Johann Faustus, der hier so emphatisch als Negativexempel eingesetzt wird?
SCHRIFTEN UND SPUREN
Mit dieser Frage nun bewegen wir uns historisch ein ganzes Stück zurück und müssen auf die frühen Jahrzehnte des 16. Jahrhunderts blicken, gut ein bis zwei Generationen bevor die Historia im Druck erschien. Nach den Spuren der historischen Faust-Gestalt zu suchen ist insgesamt eine sehr mühselige und strittige Unternehmung, mit der sich die Forschung seit geraumer Zeit beschäftigt und zu der es bis heute keine einheitliche Meinung gibt. Dennoch müssen wir uns dieser Frage stellen, wenn es – gemäß der eingangs aufgestellten These – zu untersuchen gilt, wie und wodurch Faustus zu einem Renaissance-Mythos geworden ist.
Einen ersten Hinweis gibt uns wiederum der Titel der Historia. Wie eben zitiert, wird darin nicht nur behauptet, es handele sich um eine wahre Lebensgeschichte, sondern auch, dass diese Darstellung von Faustens Leben „mehrenteils seinen eigenen hinterlassenen Schriften“ folge, also gewissermaßen aus erster Hand erzählt sei. Davon trifft allerdings nur so viel zu, dass die Historia ein Kompilat aus vielen vorliegenden Schriften ist, darunter jedoch keiner einzigen, die von ihrem Titelhelden selbst stammt. Wer immer dieser Faustus war oder gewesen sein könnte, er hat jedenfalls keine Schriften hinterlassen und sehr wahrscheinlich nie welche verfasst. Dagegen gab es um 1500 eine ganze Reihe großer europäischer Gelehrter oder Humanisten, die mit Geheimwissen und Magie in Zusammenhang standen, darunter so gewichtige Figuren wie Heinrich Cornelius Agrippa von Nettesheim, der Mediziner Paracelsus oder der Philosoph Johannes Trithemius, Abt in Sponheim. Sie alle waren weithin anerkannte, wenn auch oft umstrittene Autoren, deren Werke über die hermetischen Wissenschaften große Wirkung hatten, viel gelesen und vielfach debattiert wurden.
Unter dem Sammelbegriff „hermetische Wissenschaften“ versteht man das okkulte, d. h. geheime Wissen, wie es in der Renaissance verbreitet war und das landläufig als „Alchemie“ oder „Magie“ bekannt ist. Es speist sich aus antiken Quellen und geht zurück auf einen Bestand an alten Schriften, die unter dem Namen Hermes Trismegistos aus dem hellenischen Ägypten überliefert sind.7 Jahrhunderte lang befand sich das Zentrum dieses hermetischen Wissen in Byzanz bzw. Konstantinopel, d. h. am Ort der hellenischen Diaspora, bevor es nach der türkischen Eroberung dieser Stadt im Jahre 1453 – ein Datum, das oft als Beginn der Renaissance gesetzt wird – mit den vertriebenen Gelehrten in den westlichen Mittelmeerraum und besonders nach Italien gelangte. Dort gab, vor allem im Florenz der Medici, das Corpus Hermeticum die entscheidenden Impulse für das Aufblühen des Neuplatonismus und damit für die neuerliche Auseinandersetzung mit den alten griechischen Ideenwelten, die jetzt durch Übersetzung und philosophische Weiterentwicklung in Verbindung mit christlicher Theologie und jüdischer Kabbalistik gebracht wurden. Durch das Wirken dieser Florentinischen Schule, die sich als Re-Inszenierung der platonischen Akademie verstand, und ihrer namhaften Vertreter wie Marsilio Ficino oder Pico della Mirandola verbreiteten sich die hermetischen Wissenschaften auch nach Nordeuropa und gingen in die Kultur der Renaissance ein. Die genannten Humanisten und Gelehrten bezogen ihr okkultes Wissen über eben diese Quellen und gelten in diesem Sinne alle als hermetische Autoren.
Einen Autor namens Faustus aber gab es nicht. Was an Schriften, wie es der Titel der Historia behauptet, „von“ ihm hinterlassen sein soll, können tatsächlich nur Schriften über ihn gewesen sein. Davon nämlich gibt es viele und zwar schon hundert Jahre vor Drucklegung der anonymen Historia.8 Bereits in den 1480er Jahren finden sich erste Spuren in diversen Quellen, die zumeist dem Umkreis der Universität Heidelberg entstammen, einem deutschen Zentrum des Neuplatonismus und der humanistischen Gelehrsamkeit. Die historischen Hinweise verdichten sich nach der Wende zum 16. Jahrhundert. Immer wieder ist von einem Faustus die Rede und zwar zumeist im Zusammenhang mit Wahrsagerei, Astrologie, Beschwörungsakten und sonstigen fragwürdigen Zaubereien. Darunter finden sich übrigens etliche Aussagen, die das geographische wie kulturelle Umfeld von Eichstätt betreffen. An der Universität von Ingolstadt soll ein gewisser Georgius Faustus Vorlesungen über Philosophie und Chiromantie (das ist die Handlesekunst) gehalten haben. Georg Schenck von Limpurg, ein bedeutender Geist jener Zeit und später Bischof von Bamberg, der zu einem der großen Repräsentanten des Goldenen Zeitalters in der Kulturgeschichte Frankens wurde, hat damals in Ingolstadt studiert. 1518, als er glanzvoll Hof hielt, sollte er sich von einem fahrenden Astrologen namens Faustus sein Horoskop erstellen lassen und damit zum Auftraggeber des umstrittenen Wahrsagers und Beschwörungskünstlers werden. Zehn Jahre später berichtet Prior Kilian Leib aus Rebdorf ebenfalls über eine astrologische Expertise, die Faustus gestellt habe; im Juni 1528 wurde er deshalb aus Ingolstadt ausgewiesen. Andere Quellen sprechen immer wieder von angeblichen Flugversuchen, die Faustus unternommen haben soll, um seine Kunst unter Beweis zu stellen.
Es ist bei weitem nicht immer klar, ob solche Hinweise jeweils dieselbe Person betreffen. Allein der Name variiert erheblich. Als aussichtsreichster Kandidat einer historischen Faust-Figur gilt ein gewisser Georg Helmstetter, auf dessen Lebensweg, soweit er sich in archivierten Spuren niederschlägt, viele der genannten Quellenfunde hinzudeuten scheinen. Feststeht jedenfalls, dass viele prominente Zeitgenossen des frühen 16. Jahrhunderts einen Gelehrten namens Faustus anführen und zahlreiche Geschichten über ihn erzählen, die einschlägig auf Magie