Kapitalismus, was tun?. Sahra Wagenknecht

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Kapitalismus, was tun? - Sahra  Wagenknecht

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von ihnen leisten. Auch gegen »Gesundheitszentren« zur integrierten Versorgung und zur Vermeidung von Doppeluntersuchungen lässt sich nichts zu sagen. Allenfalls werden sich einstige DDR-Bewohner fragen, weshalb ihre Polikliniken erst zerschlagen werden mussten, um ihnen jetzt als neue Reformidee kredenzt zu werden. Aber sei’s drum, besser spät gelernt als gar nicht.

      Der Haken liegt woanders. Es ist mit der Praxisgebühr wie mit den Zuzahlungen: Ist der Damm erst gebrochen, schwemmen die Fluten immer mehr grüne Wiesen ins Wasser. Als Blüm 1983 erstmals wieder direkte Patientenzuzahlungen einführte, ging es zunächst um relativ kleine Beträge mit großen Ausnahmeregelungen. Die Entwicklung, die das Zuzahlungsunwesen seither genommen hat, ist bekannt. Gleiches ist im Falle Praxisgebühr zu erwarten: Hat die Öffentlichkeit sich erst daran gewöhnt, dass ein Arztbesuch unter bestimmten Umständen ebenso Geld kostet wie der Besuch beim Friseur oder Kfz-Mechaniker, wird die Frage auftauchen: Warum nur in dem besonderen Fall und nicht überall? Und warum nicht für Spezialisten mehr als 15 Euro? Oder abgestuft nach dem Alter des Patienten? Dem Ideenreichtum sind keine Grenzen gesetzt.

      Auch die Entwicklung hin zu gesetzlichen Kassen, die gerade noch den Minimalbedarf abdecken, während die persönliche Liquidität über den Rest entscheidet, wird mit Schmidts Gesetz kräftig vorangetrieben. Erneut werden medizinische Leistungen aus dem Kassenkatalog gestrichen: Diesmal sind es Brillen sowie die Kosten für künstliche Befruchtung und Sterilisation. Wer Arzneien braucht, wird künftig noch tiefer in die Tasche greifen müssen. Die Zuzahlungen pro Packung steigen bis maximal acht Euro. Wer gar das Pech hat, ein Medikament zu benötigen, das nicht der Verschreibungspflicht unterliegt, darf künftig den vollen Preis aus eigener Tasche blechen. Noch teurer werden auch Krankenhausaufenthalte und Zahnersatz.

      Von Rürups Geiste tief durchdrungen ist schließlich die Herausnahme des Krankengeldes aus der paritätischen Finanzierung: Die sieben Milliarden, die hierfür jährlich aufgewandt werden, müssen die abhängig Beschäftigten künftig allein zahlen, was einer erneuten Kürzung des Reallohns gleichkommt. Auch zeigt dieser Vorgang noch einmal überdeutlich, dass es bei all der geheuchelten Aufregung über »hohe Beiträge« letztlich nur um deren profitrelevanten Teilbetrag geht. Denn selbst wenn das Reformpaket sein erklärtes Ziel erreichen sollte, den Beitragssatz von derzeit 14,3 Prozent auf 13 Prozent zu senken, werden die Beschäftigten am Ende mehr zahlen als jetzt. »Versichertenbezogene Finanzierung« heißt dieser Vorgang süffisant in Schmidts Gesetz. Zudem gilt für das Krankengeld das Gleiche wie für die Praxisgebühr: Es ist der nach Einführung privater Zuzahlungen zweite entscheidende Schritt, dem System der paritätischen Finanzierung den Garaus zu machen. Weiterungen liegen längst in den Schubfächern und werden nicht zuletzt CDU-Verhandlungsposten sein.

      Schmidts Gesetzespaket als weichgespülten Rürup zu deuten, der uns vor der Hardcore-Version bewahrt, wäre daher ein grobes Missverständnis. Es ist statt dessen ein kleiner Rürup-Klon mit besten Wachstumschancen. Worauf es jetzt ankommt, ist nicht die Schrittweite, sondern die Weichenstellung.

      Die Ziellinie hat der BDI am 13. Mai bei Vorstellung seiner »Initiative vitale Gesellschaft« erneut umrissen: Vollständiger Rückzug des Staates aus dem Gesundheitsbereich, gänzliche Abschaffung der paritätischen Finanzierung, Abkoppelung der Beiträge von den Einkommen, individuelle Wahlfreiheit hinsichtlich des Versicherungsumfangs. Es gäbe keinen Grund, wurde den versammelten Damen und Herren bei Vorstellung der Initiative erläutert, weshalb die Krankenversicherung »nicht genauso wie eine Autoversicherung« strukturiert sein solle.

      Zynismus? Nein, was hier ausgesprochen wird – und was sich weder Rürup noch Schmidt auszusprechen wagen würden –, ist einfach die Konsequenz einer Privatisierung des Gesundheitswesens. Den Aktionären der Versicherungskonzerne ist es völlig schnurz, ob der Gegenstand der verkauften Policen Autos, Häuser oder Herzinfarkte sind, solange die Dividende stimmt. Privates Kapital zielt auf Ertrag, also umwirbt es lukrative Kunden und meidet die Kostenbringer. Wer bereits Unfälle hatte, zahlt seiner Autoversicherung mehr als einer, der seit Jahrzehnten unfallfrei fährt. Wer gar aus purer Liebhaberei einen rostzerfressenen Oldtimer versichern will, muss (in Ländern ohne TÜV, denn nur da steht die Frage) entsprechend tief in die Tasche greifen, so er überhaupt noch eine Versicherung findet. Der Versicherungsumfang wiederum wird zur Frage der Wahl: Dem Risikofreudigeren stehen niedrigere Beiträge bei höherer Eigenbeteiligung offen. Die Übersetzung in den Bereich der Krankenversicherung lautet: Wer häufiger krank ist, zahlt mehr als der Gesunde, Ältere mehr als Junge, Frauen mehr als Männer. Wer bereits ein heftiges Gebrechen hat, wird gar nicht erst genommen. Und wer eines kriegt und den Eigenanteil an den Reparaturkosten nicht zahlen kann? Wer sich kein Auto leisten kann, der kann eben keins fahren, und dass im Falle Gesundheit aufwendige Reparaturen mitnichten durch einen Neuwagen zu ersetzen sind, geht die Versicherung nichts an. Sie ist nicht die Caritas, ihr Ziel heißt nicht Wohlfahrt, sondern Rendite – und wer den Radius der privaten Krankenversicherung immer mehr ausweitet, sollte die Konsequenzen kennen.

      Besonders demagogisch ist es, den schleichenden Systemwandel unter dem Ticket »Einsparungen« zu verkaufen. In Wahrheit ist der übergroße Teil des angeblichen »Einsparbetrages« von 13 Milliarden Euro, den Schmidts Reform sich auf die Fahne geschrieben hat, ein Umverteilungsbetrag: Weg von den Unternehmen, hin zu den Beschäftigten, weg von den Gesunden, hin zu den Kranken. Und generell: Weg von den Reicheren, hin zu den Ärmeren. Denn letztere sind im statistischen Durchschnitt deutlich häufiger krank als Wohlhabende – auch über die Gründe dafür lohnte es nachzudenken.

      Dass ein überwiegend privatisiertes Gesundheitssystem insgesamt nicht einmal kostengünstiger ist als ein öffentliches, belegen die Vereinigten Staaten, die mit Gesundheitsausgaben von durchschnittlich 4631 $ pro Kopf und Jahr weltweit an der Spitze liegen. Zum Vergleich: Die deutschen Ausgaben liegen bei umgerechnet 2748 $. Während drei Viertel davon allerdings immer noch durch die gesetzlichen Kassen getätigt werden, handelt es sich in den USA zu mehr als der Hälfte um Ausgaben des privaten Sektors. Auf der Nachtseite des teuren US-Systems stehen mehr als 40 Millionen Amerikaner, die gänzlich ohne Krankenversicherung leben müssen, weil sie sich die teuren Prämien nicht leisten können. Und sofern die durchschnittliche Lebenserwartung als Indiz für den Nutzwert eines Gesundheitssystems gelten kann, ist das US-amerikanische unter denen der 14 größten Industriestaaten das schlechteste. Die Privatisierung hat also in erster Linie zu einer extremen Kluft zwischen medizinischen Spitzenleistungen, die für eine kleine wohlhabende Klientel erbracht werden, und einer katastrophalen Unterversorgung gerade ärmerer Bevölkerungsschichten geführt. Wer wissen will, wohin Schmidts Reise geht, wenn Widerstand weiterhin so schwach bleibt, dem sei daher hier wie in anderen Fragen der Blick nach Übersee empfohlen.

      Die Alternative? Ein erster Schritt wäre die gesetzliche Kontrolle der Preise für Pharmaprodukte, die diese um etwa ein Drittel verbilligen könnte (denn die durchschnittlichen Gewinnmarge allein der Hersteller im Pharmabereich liegt bei dreißig Prozent). Als nächstes stünde die Beitragspflicht aller Einkommensarten für die gesetzliche Krankenversicherung an, also auch der Einkommen aus Gewinn und Vermögen, die in den letzten Jahren massiv gewachsen sind. Ein dritter Schritt wäre die Abschaffung der Versicherungspflichtgrenze, so dass auch gesunde Gutverdiener gesetzlich versichert bleiben. Der vierte Schritt ergibt sich als Konsequenz aus dem dritten und bestünde in der Abschaffung privater Krankenversicherungen; damit hätte jene zynische Konkurrenz um die lukrative Kundschaft der jungen Gesunden mit hohem Salär ein Ende. Dies alles zusammen würde die Finanzlage der gesetzlichen Krankenversicherungen so hinreichend entlasten, dass Defizite ebenso der Vergangenheit angehören könnten wie private Zuzahlungen jeder Art.

      21. Juni 2003

      Beschenkte Millionäre

      Der Weg der Erkenntnis ist lang. Inzwischen hat es sich also bis ins Kanzleramt herumgesprochen, dass konjunkturelle Flauten und unausgelastete Kapazitäten nicht, wie obligatorisch betont, Folge von »Reformstau« und »hohen Lohnkosten« sein müssen, sondern womöglich aus mangelnder Nachfrage herrühren könnten. Konsumtive Nachfrage wiederum, das haben die Hofökonomen Schröder beigebracht, resultiert aus dem Einkommen, das die Leute netto nach Hause

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