Kapitalismus, was tun?. Sahra Wagenknecht
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1994 lebten in den USA fünf Millionen Familien von Sozialhilfe; heute sind es noch zwei Millionen. Den »verschwundenen« drei Millionen dürfte es, ob mit zwei oder drei Jobs, ob auf der Straße, als Mitglied einer kriminellen Gang oder bereits im Gefängnis, jedenfalls dreckiger gehen als je zuvor. Ähnliche Ergebnisse scheint Schröder anzupeilen. 1930 war dann wohl auch so mancher Ökonomieprofessor »sehr überrascht«. Nur, zwei Mal sind endgültig genug.
24. Mai 2003
Zinsen und Margen
Die Leitzinssenkung um 0.5 Prozentpunkte, zu der sich die Europäische Zentralbank am Donnerstag endlich durchrang, war überfällig. Europaweit herrscht Ödnis. Die Wirtschaften stagnieren oder befinden sich wie Deutschland (– 0.2 Prozent), die Niederlande (– 0.3 Prozent) und Italien (– 0.1 Prozent) auf Schrumpfkurs. Die einzige Zahl in den europäischen Statistiken, die kräftige Steigerungsraten ausweist, ist die Arbeitslosenquote. Im EU-Durchschnitt liegt sie derzeit bei 8,8 Prozent und damit auf dem höchsten Stand seit drei Jahren. Die Europäische Zentralbank selbst hat ihre Wachstumsprognose für den Euro-Raum mehrfach nach unten revidiert.
Das alles ist allerdings nicht neu und galt im Grunde auch schon, als der EZB-Rat das letzte Mal tagte und die Zinsen unverändert ließ. 53 Prozent der deutschen Topmanager befürworteten diese Entscheidung, nur 46 Prozent – überwiegend aus mittleren Betrieben – sprachen sich damals für eine Senkung aus.
Diese Relation mag erstaunen, sollten Unternehmen – folgt man neoklassischer Lehrbuchweisheit – doch stets Interesse an möglichst niedrigen Zinsen haben. In Wahrheit gilt das aber nur für jene, deren Schulden ihre Finanzpolster übersteigen, was bei einem beträchtlichen Teil der Dax-Konzerne schon lange nicht mehr (und auch nach drei Jahren Börsencrash und Krise noch lange nicht wieder) der Fall ist. Wer dagegen auf einem großen Geldberg sitzt – und hier mögen die befragten Manager nicht allein das Interesse ihres Unternehmens artikulieren, sondern den Instinkt ihrer Klasse insgesamt –, den treibt im Zeitalter einer durch kein Metall mehr gedeckten Währung Inflationsangst um, die nicht selten ins Paranoide und Hysterische umschlägt. Diese Paranoia ist der Baustoff, aus dem die geldpolitische Strategie der Europäischen Zentralbank – wie einst der Bundesbank – gemacht ist.
Natürlich geht es letztlich nie um die Inflationsrate als solche, sondern immer um das Verhältnis von Nominalzins und Inflation. Mit acht Prozent Inflation und einem Zinsfuß von 13 Prozent können Geldvermögensbesitzer allemal besser leben als mit zwei Prozent Zinsen ohne Inflation. Aber in der für sie besten aller möglichen Welten vereinigen sich Geldwertstabilität und ein ordentlicher Zins. So erschienen selbst kurz vor dem jüngsten EZB-Entscheid im Handelsblatt noch Artikel, die für eine Beibehaltung des Niveaus von 2,5 Prozent warben. »Eine Erhöhung der Inflation«, wurde argumentiert, »würde Kosten in Form von Vermögensumverteilungen nach sich ziehen.« Sehen wir davon ab, dass von einer Erhöhung der Inflation gegenwärtig keine Rede sein kann – Umverteilungen finden mit sinkenden Zinsen tatsächlich statt, allerdings stehen den »Kosten« (lies: geringeren Einnahmen) der Vermögensbesitzer gleich hohe Zugewinne bei den Schuldnern (etwa den öffentlichen Haushalten) gegenüber. Ein zweites Argument gegen Zinssenkungen bestand denn auch just darin, dass niedrigere Zinsen den Druck auf die öffentliche Hand verringern würden und damit Schröders Sozialkahlschlag verlangsamen könnten. Denn je schmaler der Zinsaufschlag, desto billiger werden neue Schulden. Jedes noch so kleine Zinsprozent ist also über die Jahre Milliarden öffentlicher Gelder wert, die auf die Konten privater Anleger geschaufelt werden müssen.
Aber all diesen schönen Argumenten zum Trotz hat sich der Mehrheitstrend in den letzten Wochen spürbar gewandelt. Immer mehr Wirtschaftsbosse befürworten nunmehr einen EZB-Zinsschritt nach unten. Herbeigeführt wurde dieser Stimmungswechsel mitnichten durch die tausenden Arbeitslosen, die es seither zusätzlich gibt, sondern in erster Linie durch den hartnäckigen Höhenflug des Euro, der auf die Erträge der europäischen Exportwirtschaft drückt. Deutsche Konzerne sind dabei besonders betroffen, denn in kaum einem Land ist der Binnenmarkt in einem traurigeren Zustand als nach fünf Jahren rosa-grüner Kapital-Hörigkeit hier in der Bundesrepublik. Schon im letzten Jahr hat allein die erneute Steigerung des Exports die deutsche Wirtschaft vor dem Einbruch gerettet. Das lässt sich aber nur wiederholen, wenn die Einnahmen außerhalb des Euro-Raums, in heimischer Währung berechnet, nicht immer weiter an Wert verlieren.
Allein gegenüber dem Dollar hat der Euro in den vergangenen zwölf Monaten um fast ein Drittel aufgewertet. Zudem tobt, seit US-Finanzminister Snow die eigene Währung zwecks Ankurbelung der Konjunktur zur Abwertung freigegeben hat, ein regelrechter Abwertungswettlauf zwischen ersterer und den Währungen Südostasiens, das gleichfalls um seine Exporte fürchtet. Bricht beispielsweise der krisen- und deflationsgeschüttelten japanischen Wirtschaft noch dieser letzte Anker weg, sieht es rabenschwarz aus. Um den Dollar zu stützen und die eigene Währung zu schwächen, kaufen asiatische Notenbanken seither massiv US-Staatsanleihen. Für die USA hat das den Vorteil, dass die Finanzierung ihres ausufernden Leistungsbilanzdefizits selbst bei abwertendem Dollar ohne Probleme möglich bleibt und die Zinsen auf dem Markt für langfristige Anleihen nicht steigen. Letzteres kann Greenspan durch niedrige Leitzinsen allein nämlich nicht gewährleisten. Der Nachteil der asiatisch-amerikanischen Währungsschlacht für die Euro-Länder allerdings ist, dass europäische Exporte eben nicht nur in Übersee, sondern auch in der pazifischen Region immer teurer werden, was selbst für den verbissensten Hartwährungs-Fetischisten denn doch zuviel des Guten sein mag.
Den Euro und damit die Exportwirtschaft wird die jetzt vollzogene Zinssenkung vielleicht vorübergehend entlasten. Ob nennenswerte konjunkturelle Impulse von ihr ausgehen werden, darf bezweifelt werden. Nicht nur, weil niedrige Zinsen allein noch keine Investition anregen, solange die Absatzlage weltweit düster bleibt. Sondern auch, weil die Zinssenkung bei denen, die sie wirklich brauchen können – mittlere und kleine Betriebe und Verbraucher – nicht einmal ankommen wird. »Die Kreditkunden der Banken«, wusste das Handelsblatt schon am 15. Mai, »können … auch bei einer weiteren Zinssenkung der EZB nicht mit besseren Konditionen rechnen. Vielmehr haben verschiedene Banken bereits angekündigt, im Firmenkundengeschäft die Margen durch Zinserhöhungen ausweiten zu wollen.« Noch Fragen?
7. Juni 2003
Zahnlücken
Im Vergleich zum Rürupschen Original mag das am Mittwoch in erster Lesung im Bundestag behandelte Monstrum mit Namen »Gesundheitssystemmodernisierungsgesetz« harmlos scheinen. Wir erinnern uns: Nach Geschmack des Herrn Rürup sollten die Kassenbeiträge völlig von den Löhnen abgekoppelt und jeder Versicherte zur Zahlung einer »Kopfprämie« verpflichtet werden; abgedeckt werden sollte damit allerdings nur der medizinische »Grundbedarf« – bzw. das, was die gewiss exklusiv privatversicherte Expertenrunde dem Normalsterblichen als unerlässlich zuzubilligen bereit war. Genauer definiert wurde das nicht, aber soviel immerhin drang durch: der Anspruch, Zähne im Mund zu haben oder beim Sturz von der heimischen Leiter das gebrochene Bein eingegipst zu bekommen, gehörte nicht dazu. Da schon der Akt, einen Arzt aufzusuchen, statt mobil, flexibel und fit bis zum Umfallen der Kapitalverwertung zur Verfügung zu stehen, offenbar eine Zumutung an die Gemeinschaft darstellt, sollten die Delinquenten per Praxisgebühr dafür löhnen. Im Gegenzug waren in Rürups Wunschwelt die Arbeitgeber von dem Ärgernis, die Krankenversicherung ihrer Beschäftigten mitfinanzieren zu müssen, ganz zu befreien.
Ulla Schmidt hat die Rürupsche Rezeptur mit etwas Wasser verdünnt und mit reichlich Süßstoff verrührt, um ihr den allzu bitteren Geschmack zu nehmen. Dadurch freilich wird aus einem Brechmittel noch kein Honigkuchen. Die Praxisgebühr beispielsweise fällt jetzt nur an, wenn der Facharzt ohne vorherige Konsultation des Hausarztes aufgesucht wird. Ganz sicher ist gegen eine gestärkte Stellung des Hausarztes nichts einzuwenden. Immerhin gehört dessen Job mit Rücksicht auf Verdienst wie öffentliches Ansehen bisher zu den undankbarsten