Kapitalismus, was tun?. Sahra Wagenknecht
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Das Spezielle an der heutigen Lage besteht darin, dass fallenden Preisen in einigen Branchen steigende in anderen gegenüberstehen, weshalb die offizielle Inflationsrate weder das eine noch das andere ausweist. In Bereichen, in denen die Nachfrage relativ unelastisch reagiert, etwa bei Nahrungsmitteln, können unverändert hohe Preise durchgesetzt werden. Auch Öl wird zumindest solange teuer bleiben, wie der Irak den Aggressoren Widerstand entgegenzusetzen vermag. All das (wie auch die steigenden Kriegskosten, die überwiegend der US-Steuerzahler trägt) beschleunigt den Wegbruch der Nachfrage in anderen Bereichen. Auch in Europa ist zusätzlich zu allen sonstigen Problemen mit einer Aufrüstungswelle – Stichwort: Gemeinsame Europäische Außen- und Sicherheitspolitik – zu rechnen, die irgendwer bezahlen muss.
In der ökonomischen Debatte gelten Deflationen in der Regel als schwerer beherrschbar denn Inflationen. Während sich Preissteigungen durch Hochzinspolitik und Sparprogramme in der Regel erfolgreich abwürgen lassen – wenn auch um den Preis Millionen Arbeitsloser und wachsender Armut –, kann Deflationsbekämpfung mittels einer Politik des billigen Geldes leicht verpuffen, wenn die Banken sie zur Sanierung ihrer Margen nutzen und zugleich Kredite knapp und teuer halten. Sinkende Preise erhöhen den Realzins wie auch die Last der Schulden zusätzlich – der privaten wie der öffentlichen – und schränken damit fiskalpolitische Spielräume weiter ein. Dennoch: Kaum ein anderes ökonomisches Phänomen zeigt den Irrwitz der kapitalistischen Verwertungsmaschinerie und das Klasseninteresse, das die herrschende Politik lenkt, so deutlich wie deren Machtlosigkeit gegenüber Deflationen. Ein einziges zinsfrei notenbankfinanziertes Milliardenprogramm, eingesetzt zur drastischen Erhöhung von Kindergeld, Arbeitslosenunterstützung und Renten – und schon wäre jede Deflationsgefahr gebannt. Schröder freilich versucht sich lieber mit dem Gegenteil. Das Ergebnis wird nicht auf sich warten lassen.
29. März 2003
Produktivitätslegenden
»Sozialdemokraten verraten ihre Ideale« grollte vor kurzem eine Tageszeitung in ihrer Titelzeile. Nun ist dieser Sachverhalt nicht ganz neu und hat sich auch leidlich herumgesprochen – seit Schröders letzter Kanzlerrede offenbar sogar bis in die Spitzen der Gewerkschaften. Auch ist der Ausspruch eigentlich ein wenig beschönigend, denn von jemandem, der bereits vor Jahrzehnten seine Großmutter erschlagen hat, in der Folgezeit seine Eltern, Onkel, Tanten und Cousins und kürzlich seine schwangere Ehefrau, würde man vermutlich auch nicht nur sagen, er pflege seine familiären Beziehungen schlecht.
Aber der vermeintliche Beistand kommt ohnehin aus ungewohnter Ecke. Unter besagter Headline – Unterüberschrift: »Niedriglohn« – veröffentlichte nämlich ausgerechnet das Handelsblatt einen langen Artikel, der die wohlbetuchte Leserklientel mit folgender Erkenntnis erschütterte: »Sie [die SPD] verraten … ihre eigene Geschichte. Die Arbeiterbewegung entstand, weil in der industriellen Revolution breite Bevölkerungskreise verarmten. Heute verarmen ebenfalls weite Bevölkerungskreise.« Was auf diese Einsicht in die kapitalistische Verteilungsproblematik folgt, ist allerdings kein Spendenaufruf nach dem Muster: »Liebe Unternehmerinnen und Unternehmer, seien sie großherzig, drücken Sie ihren Billiglöhnern und Leiharbeitern ab und an einen Euro extra in die Hand, sie brauchen es!«, sondern eine kurz und knappe Begründung für besagte Verarmung »weiter Bevölkerungskreise«, und diese Begründung lautet: »Weil ein schlecht gemanagter Sozialstaat den Geringqualifizierten das Recht auf Arbeit raubt.«
Wenn Zynismus eine zivilisatorische Errungenschaft ist, dann sind die Sieger des Kalten Krieges tatsächlich zivilisierter als der östliche Sozialismus es je sein konnte. Der Kapitalismus kämpft für die Freiheit der Unfreien, indem er sie mit Streubomben zerfetzt, und er kämpft für den Wohlstand der Armen, indem er ihnen noch das Letzte nimmt. Wer in dieser Gesellschaft ankommen will, muss begreifen: Wenn BDA-Chef Hundt verlangt, das Arbeitslosengeld am besten ganz zu streichen, betreibt er nicht profitmaximierende Interessenpolitik, sondern engagiert sich für das Recht auf Arbeit. Und Schröders Verantwortung für wachsende Armut rührt nicht daher, dass er soziale Leistungen mit Verve zerschlägt, sondern daher, dass er immer noch nicht alle zerschlagen hat.
Zur Begründung dieser Art von Argumenten haben Ökonomen eine eigene Theorie kreiert, die sogenannte »Grenzproduktivitätstheorie« der Verteilung. Sie wird normalerweise in hochmathematischer Verbrämung vorgetragen und basiert auf einer Reihe seltsamer Annahmen. Eine davon ist, dass bei steigender Beschäftigung die Produktivität je Beschäftigten sinkt. In der Realität einer Industriegesellschaft verhält es sich zwar in der Regel gerade umgekehrt, aber was tut‘s. Eine andere These ist, dass Unternehmen Arbeiter so lange einstellen, bis das Grenzprodukt des zuletzt Eingestellten seinem Lohn entspricht. Zusammen mit der Annahme sinkender Grenzerträge lässt sich daraus der beliebte Schluss ableiten, dass bei niedrigen Löhnen insgesamt mehr Leute Beschäftigung finden als bei hohen.
Die überdurchschnittliche Arbeitslosigkeit gerade bei weniger Qualifizierten wiederum wird damit begründet, dass die »Produktivität« dieser Menschen generell niedrig sei und der durch gewerkschaftliche Tarifkämpfe festgeschriebene bzw. über das Sozialhilfeniveau faktisch gesetzte Mindestlohn oberhalb dieser »Produktivität« liege. Die heutige Form der Sozialhilfe, schimpft etwa der Handelsblättler in dem zitierten Artikel, zerstöre »den Arbeitsmarkt für Geringqualifizierte«; denn: »Ein Sozialhilfe-Empfänger wäre dumm, wenn er einen Job annähme, bei dem er weniger oder genauso viel verdient, wie ihm das Sozialamt überweist … Und ein Unternehmer wäre dumm, wenn er einem Sozialhilfeempfänger so viel bezahlen würde, dass sich für diesen das Arbeiten lohnt. Wegen dessen niedriger Produktivität würde er mehr kosten als erwirtschaften.« Auf den ersten Blick klingt das sogar schlüssig. Angenommen, ein Beschäftigter in einem Landwirtschaftsbetrieb erntet einen Monat lang Erdbeeren, die sich für insgesamt 1500 Euro verkaufen lassen; ein Softwareingenieur könnte in der gleichen Zeit ein neues Antivirenprogramm entwickeln, das 200 000 Euro Umsatz verspricht. Dann lohnt sich des Informatikers Beschäftigung selbst bei 10 000 Euro Monatseinkommen, während der Erdbeerpflücker schon bei 1500 Euro brutto nicht mehr eingestellt wird. Kann der Lohn nicht tiefer gedrückt werden, bleiben die Erdbeeren nach betriebswirtschaftlicher Logik eben ungepflanzt und ungeerntet. Für die Gesamtwirtschaft lässt sich daraus folgern: Löhne, die ein bestimmtes Limit nicht unterschreiten können, verhindern Produktion und verursachen Arbeitslosigkeit.
Tatsächlich beruht dieser Schluss auf der Suggestion, monetäre Werte würden unmittelbar und ungebrochen physische Mengenverhältnisse zum Ausdruck bringen. In Bereichen höherer Produktivität würde eben real mehr produziert als in solchen, in denen die Statistik geringere Produktivität ausweist. Aber physisch sind Erdbeeren mit Antivirenprogrammen oder auch Autos mit Telefonminuten überhaupt nicht vergleichbar. Es gibt kein einheitliches Maß und also auch kein Mehr. Was in dem angeführten Fall gemessen und verglichen wird, ist der Umsatz pro Beschäftigten. Der aber ist abhängig vom Preis des Produktes, und der Preis wiederum wird entscheidend durch die Kosten bestimmt. Hier beißt sich die Katze in den berühmten Schwanz, denn ein Teil der Kosten sind just die Löhne. Will heißen: Die statistisch gemessene Produktivität pro Beschäftigten ist in bestimmten Bereichen gerade deshalb niedrig, weil die Löhne es sind. Wird die geringe Produktivität dann wieder zum Vorwand, um den Druck auf die Löhne zu verstärken, entsteht eine Abwärtsspirale, die die Verteilungsrelation zwischen Gewinnen und Arbeitseinkommen immer stärker zugunsten der ersteren verschiebt.
Ganz nebenbei sei noch bemerkt: Auch mangelnde Qualifikation ist alles andere als das Ergebnis von Lernfaulheit oder Blödheit. Im Herbst diesen Jahres wird die Ausbildungsmisere mit voraussichtlich 100 000 fehlenden Lehrstellen einen neuen Rekord erreichen. Auch diese 100 000 jungen Menschen werden sich wohl anschließend wieder von jenen, die ihnen ihre Ausbildung vorenthalten, anhören müssen, sie seien Löhne,