Die wichtigsten Werke von Leo Tolstoi. Leo Tolstoi
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»Ist es Eurer Hoheit gefällig, das Kommando der ersten Armee zu übernehmen?« wandte er sich an den Prinzen von Württemberg, der nahe stand. Bald nachdem der Prinz weggeritten war, kam der Adjutant des Prinzen und meldete, der Prinz lasse um Verstärkung bitten. Kutusows Miene verfinsterte sich. Er sandte Dochturow den Befehl, das Kommando der ersten Armee zu übernehmen, und bat den Prinzen, zu ihm zurückzukehren, da er in diesem wichtigen Augenblick nicht ohne ihn auskommen könne. Als die Nachricht von der Gefangennahme Murats überbracht wurde, und die Offiziere Kutusow beglückwünschten, lächelte er.
»Warten Sie nur, meine Herren«, sagte er. »Die Schlacht ist gewonnen, und es ist kein Wunder, daß Murat gefangen wurde, aber besser, wir warten noch ein bißchen, ehe wir uns freuen.« Doch sandte er einen Adjutanten ab, um den Truppen diese Nachricht mitzuteilen. Als Schtscherbinin vom linken Flügel mit der Meldung kam, die Franzosen hätten die Schanze bei Semenowskoje genommen, erriet Kutusow an Schtscherbinins Miene, daß seine Nachrichten nicht gut seien, stand auf und führte ihn beiseite. »Reite hin, mein Lieber«, sagte er zu Jermolow, »sieh nach, ob man nicht etwas tun kann!«
Kutusow war in Gorky im Zentrum der russischen Stellung. Die Angriffe Napoleons auf unseren linken Flügel wurden mehrmals abgeschlagen; im Zentrum kamen die Franzosen nicht weiter als bis Borodino, auf dem linken Flügel schlug die Kavallerie Uwarows die Franzosen in die Flucht. Um drei Uhr hörten die Angriffe der Franzosen auf. Auf allen Gesichtern las Kutusow den Ausdruck der höchsten Spannung. Er war über Erwarten befriedigt vom Erfolg des Tages, aber die physischen Kräfte verließen den Greis, mehrmals sank sein Kopf herab, und er schlummerte ein. Man brachte ihm das Mittagessen.
Während Kutusow speiste, kam der Flügeladjutant Wolzogen mit Meldungen von Barclay auf dem linken Flügel. Der kluge Barclay de Tolly, welcher Gruppen von fliehenden Verwundeten sah, kam nach Erwägung aller Umstände zu dem Schluß, die Schlacht sei verloren, und sandte seinen Günstling mit dieser Nachricht an den Oberkommandierenden. Kutusow kaute mühsam an einem gebratenen Huhn und blickte Wolzogen vergnügt an, welcher mit halb verächtlichem Lächeln auf Kutusow zutrat und nachlässig den Mützenschirm berührte.
»Der alte Herr«, wie die Deutschen unter sich Kutusow nannten, »hat sich ruhig niedergelassen«, dachte Wolzogen und begann mit einem strengen Blick auf die Teller, welche vor Kutusow standen, dem alten Herrn die Sachlage zu erklären, wie ihm Barclay aufgetragen und wie er sie selbst aufgefaßt hatte.
»Alle Punkte unserer Stellung sind in den Händen des Feindes! Unsere Truppen fliehen, und es ist nicht möglich, sie anzuhalten«, meldete er. Kutusow blickte Wolzogen erstaunt an.
»Haben Sie das gesehen?« schrie er mit finsterer Miene und schritt auf Wolzogen zu. »Wie können Sie es wagen …« schrie er mit drohender Gebärde, »mir das zu sagen! Sie wissen nichts! Sagen Sie dem General Barclay, seine Nachrichten seien falsch, und der wirkliche Gang der Schlacht sei mir, dem Oberkommandierenden, besser bekannt als ihm! Der Feind ist auf dem linken Flügel zurückgeschlagen, und auf seinem rechten erschüttert! Teilen Sie dem General Barclay meinen unerschütterlichen Entschluß mit, morgen den Feind anzugreifen. Morgen werden wir ihn von dem geheiligten Boden Rußlands vertreiben!« Kutusow bekreuzigte sich und schluchzte plötzlich. Wolzogen zuckte die Achsel und trat schweigend zur Seite, verwundert über »die Verrücktheit des alten Herrn«.
»Da ist er, mein Held!« rief Kutusow einem stark beleibten, schönen, schwarzhaarigen General entgegen. Das war Rajewsky, welcher den ganzen Tag auf dem wichtigsten Punkt des Schlachtfeldes gestanden hatte. Rajewsky meldete, die Truppen stehen fest, und die Franzosen wagen nicht mehr, anzugreifen.
»Sie sind nicht der Meinung wie die anderen, daß wir uns zurückziehen sollten?« sagte Kutusow französisch.
»Im Gegenteil, Erlaucht, in unentschiedenen Schlachten bleibt derjenige Sieger, der hartnäckiger ist«, erwiderte Rajewsky, »und meine Meinung …«
»Kaissarow!« rief Kutusow nach seinem Adjutanten. »Setze dich und schreibe einen Tagesbefehl für morgen. Morgen greifen wir an.«
Als die Truppen erfuhren, daß wir morgen den Feind angreifen, und aus den höchsten Sphären des Heeres die Bestätigung dessen vernahmen, was sie so gern glaubten, faßten die erschöpften, schwankenden Regimenter neuen Mut.
177
Das Regiment des Fürsten Andree stand in Reserve bei Semenowskoje untätig in starkem Artilleriefeuer. Um zwei Uhr hatte das Regiment schon mehr als zweihundert Mann verloren und wurde auf ein zertretenes Haferfeld vorwärts geführt, in jenen Abschnitt zwischen dem Dorf und der Hügelbatterie, auf welchem an diesem Tage Tausende verwundet wurden, und auf welchen um zwei Uhr das Feuer von einigen hundert Geschützen gerichtet war. Ohne einen Schuß zu tun, verlor das Regiment hier den dritten Teil seiner Leute. Von vorn und besonders von der rechten Seite her donnerten aus dem undurchdringlichen Rauch die Geschütze hervor. Mit jedem neuen Treffer verminderte sich für diejenigen, welche noch nicht getroffen waren, die Wahrscheinlichkeit, am Leben zu bleiben. Das Regiment stand in Bataillonskolonnen mit Abständen von dreihundert Schritten, aber dennoch befanden sich alle Leute des Regiments unter dem Einfluß derselben Stimmung. Alle beobachteten ein düsteres Schweigen, zuweilen hörte man einige kurze Worte und dann wieder den Ruf: »Tragbahren!« Die Leute saßen meist auf der Erde, nahmen die Tschakos ab oder gruben etwas trockenen Ton aus, ballten ihn in den Händen und reinigten die Bajonette damit. Andere zogen ihre Gürtel fester, einige bauten kleine Häuser aus Erde, oder flochten Kleinigkeiten aus Strohhalmen. Alle schienen ganz versunken in ihre verschiedenen Beschäftigungen zu sein. Wenn Leute verwundet wurden, Tragbahren aus der vorderen Linie zurückkamen, oder wenn durch den dichten Rauch große feindliche Massen sichtbar wurden, achtete niemand darauf, nur wenn Artillerie oder Kavallerie vorrückte, oder Bewegungen unserer Infanterie zu bemerken waren, hörte man beifällige Bemerkungen von allen Seiten. Aber am meisten fanden Nebendinge Beachtung, welche mit der Schlacht gar nichts zu tun hatten. Ein kleines, braunes Hündchen mit hoch erhobenem Schweif erschien und lief geschäftig die Reihen entlang. Wenn plötzlich eine Granate einschlug, eilte es winselnd beiseite. Überall wurde es mit Gelächter begrüßt. Aber dergleichen Zerstreuungen dauerten nicht lange. Die Leute standen schon acht Stunden untätig vor den Schrecken des Todes, und die erschöpften Gesichter wurden immer bleicher.
Ebenso bleich und erschöpft ging Fürst Andree auf der Wiese auf und ab, die Hände auf den Rücken gelegt. Er hatte nichts zu tun oder zu befehlen, alles ging wie von selbst. Tote wurden hinter die Front gebracht, Verwundete fortgetragen, und die Reihen schlossen sich wieder. Anfangs hielt er es für seine Pflicht, den Mut der Soldaten durch sein Beispiel aufrechtzuerhalten, und ging deshalb vor den Reihen auf und ab, bald aber überzeugte er sich, daß das überflüssig war. Alle seine Seelenkräfte waren ebenso wie die jedes einzelnen Soldaten unbewußt darauf gerichtet, sich selbst unter den Schrecken der gegenwärtigen Lage aufrechtzuerhalten. Er ging auf die Wiese, betrachtete seine staubigen Stiefel oder zählte seine Schritte und berechnete, wie oft er hin und her gehen müsse, um eine Werst zurückzulegen. Von all seiner Gedankenarbeit war nichts übriggeblieben, er dachte an gar nichts. Er horchte mit ermüdetem Gehör immer auf dieselben Laute, unterschied das Pfeifen der Geschosse vom Donner der Schüsse und wartete. »Da kommt wieder eine zu uns!« dachte er, auf das näherkommende Pfeifen horchend. »Noch eine, da ist sie niedergefallen!« Er blieb stehen und blickte nach den Reihen der Soldaten.
»Nein, nichts getroffen!«
Ein Pfeifen und ein Schlag! Fünf Schritte von ihm wurde die trockene Erde aufgerissen und eine Kanonenkugel verschwand darin. Unwillkürlich lief ein Schauder über seinen Rücken. Wieder betrachtete er die Glieder des Bataillons. Wahrscheinlich