Die wichtigsten Werke von Leo Tolstoi. Leo Tolstoi
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»Oh! Oh!« weinte er wie ein Weib. Der Arzt, der bei dem Verwundeten stand, wandte sein Gesicht ab und ging hinaus.
»Mein Gott! Wer ist das? Warum ist er hier?« fragte sich Fürst Andree. Er hatte in dem unglücklichen, weinenden, hilflosen Menschen, dem man das Bein abgenommen hatte, Anatol Kuragin erkannt.
»Ja, das ist er!« dachte Fürst Andree, und plötzlich erinnerte er sich wieder an Natalie, wie er sie zum erstenmal auf dem Ball vor zwei Jahren gesehen hatte, mit dem feinen Hals und den dünnen Händen, mit lebenslustigem, glücklichem Gesicht, und in seiner Seele erwachte wieder mit neuer Gewalt die Zärtlichkeit und Liebe zu ihr. Er vermochte sich nicht mehr zu halten und vergoß Tränen der Liebe und Rührung über die Menschen, über sich selbst, über ihre und seine Verirrungen.
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ALS die russischen Truppen sich von Borodino zurückzogen, nachdem sie in einer blutigen Schlacht die Hälfte ihrer Truppen verloren hatten, nahmen sie bei Fili Stellung. Jermolow, der die Stellung besichtigt hatte, kam zum Feldmarschall. »Es ist unmöglich, sich in dieser Stellung zu schlagen«, sagte er.
Kutusow blickte ihn verwundert an und streckte seine Hand aus. »Gib deine Hand her«, sagte er und suchte seinen Puls. »Du bist nicht gesund, mein Täubchen, bedenke, was du sprichst!« Sechs Werst von Moskau stieg er aus dem Wagen und setzte sich auf eine Bank am Wege. Eine große Menge von Generalen sammelte sich um ihn, darunter auch Graf Rostoptschin, der aus Moskau gekommen war. Diese ganze glänzende Gesellschaft, die sich in einzelne Kreise teilte, sprach über die Vorteile und Nachteile der Stellung, über die Lage des Heeres, über fernere Pläne und den Zustand Moskaus. Alle fühlten, daß das ein Kriegsrat war, wenn er auch nicht so genannt wurde, und alle bestrebten sich, so zu sprechen, daß der Kommandierende sie hören konnte.
Kutusow hörte zu, wandte sich aber immer wieder enttäuscht ab. Die einen sprachen von der neuen Stellung, andere behaupteten, man hätte die Schlacht schon vor drei Tagen annehmen müssen, wieder andere sprachen von der Schlacht bei Salamanka und der Belagerung von Saragossa. Graf Rostoptschin sprach davon, er sei bereit, mit den Moskauer Landsturmleuten unter den Mauern der Residenz zu sterben, aber er müsse doch bedauern, daß man ihn in Unwissenheit gelassen habe; wenn er das früher gewußt hätte, wäre es anders. Noch andere bewiesen die Tiefe ihres strategischen Scharfsinnes, indem sie von der Richtung des ferneren Rückzuges sprachen, und manche schwatzten offenbaren Unsinn. Wenn Bennigsen auf der Verteidigung dieser Stellung bestand, und andere sie wieder kritisierten, so handelte es sich dabei nicht mehr um die Sache selbst, sondern es war nur Vorwand zu Streit und Intrige. Das begriff Kutusow. Er durchschaute Bennigsens Absicht. Wenn die Verteidigung erfolglos war, so wollte er die Schuld auf Kutusow wälzen, wenn sie Erfolg hatte, so wollte er diesen sich selbst zuschreiben. Wenn sich Kutusow weigerte, so war Bennigsen gerechtfertigt und hatte keinen Teil an dem Verbrechen, Moskau aufzugeben; Doch diese Frage beschäftigte jetzt den alten Mann nicht, sondern eine andere Frage, auf die er keine Antwort finden konnte. Es war die Frage: »Habe ich wirklich Napoleon bis Moskau kommen lassen? Und wann habe ich das getan? Wann war der Wendepunkt? Vielleicht gestern, als ich Platow befahl, sich zurückzuziehen? Oder vorgestern, als ich einschlummerte und Bennigsen das Kommando übergab? Oder noch früher? Aber wann, wann war dieser Wendepunkt? Jetzt muß Moskau aufgegeben werden, und die Truppen müssen sich zurückziehen! Und diesen Befehl muß ich erlassen!« Er war überzeugt gewesen, daß er zur Befreiung Rußlands bestimmt und nur deshalb gegen den Willen des Kaisers auf den Wunsch des Volkes zum Oberkommandierenden erwählt worden sei, und nun entsetzte er sich vor dem Gedanken, daß er jetzt diesen Befehl geben sollte. Aber ein Beschluß mußte gefaßt werden, diesen Gesprächen um ihn her mußte ein Ende gemacht werden, die bereits anfingen, einen allzu freien Charakter anzunehmen. Er berief die alten Generale zu sich.
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In einer geräumigen Bauernhütte versammelte sich um zwei Uhr der Kriegsrat. Die kleine Enkelin des Bauern, Malascha, ein sechsjähriges Mädchen, dem Kutusow ein Stück Zucker gab, blieb in der großen Hütte auf dem Ofen und blickte schüchtern herab auf die glänzende Uniform des Großväterchens, wie Malascha Kutusow nannte. Dieser saß besonders in einer dunklen Ecke hinter dem Ofen auf einem Feldstuhl und zog beständig an dem Kragen seines Mantels, der ihn zu drücken schien. Einigen der eintretenden Generale drückte er die Hand, anderen nickte er mit dem Kopf zu. Kaissarow wollte den Vorhang vom Fenster zurückziehen, aber Kutusow winkte ihm ärgerlich mit der Hand, und Kaissarow begriff, daß er sein Gesicht nicht sehen lassen wollte. Man erwartete noch Bennigsen, der sein Mittagsmahl beendigte unter dem Vorwand, die Stellung noch einmal zu besichtigen. Man wartete von vier bis sechs Uhr, ohne in die Beratung einzutreten, und sprach nur leise. Erst als Bennigsen ins Zimmer trat, rückte Kutusow aus seiner Ecke an den Tisch, der mit Karten, Plänen und Bleistiften bedeckt war. Bennigsen eröffnete die Beratung durch die Frage: »Sollen wir ohne Kampf die geheiligte Residenz Rußlands aufgeben oder sie verteidigen?« Ein langes Schweigen folgte, alle blickten nach Kutusow. Auch Malascha sah nach Großväterchen, sie war ihm am nächsten und sah, wie sein Gesicht sich verzog, als ob er weinen wollte. Aber das dauerte nicht lange.
»Die geheiligte, alte Residenz Rußlands«, wiederholte er plötzlich mit zorniger Stimme die Worte Bennigsens und zeigte dadurch die falsche Note darin. »Erlauben Sie mir zu bemerken, Erlaucht, daß diese Frage für einen Russen keinen Sinn hat! Eine solche Frage kann man nicht stellen, aber die Frage, wegen der ich diese Herren berufen habe, ist eine militärische Frage und lautet: ›Da die Rettung Rußlands in der Armee liegt – ist es vorteilhaft, den Verlust der Armee und Moskaus zu riskieren, indem man eine Schlacht annimmt, oder Moskau ohne Schlacht aufzugeben?‹ Das ist die Frage, über die ich Ihre Meinung zu hören wünsche.«
Die Beratung begann. Bennigsen gab sein Spiel noch nicht verloren. Indem er die Meinung Barclays und anderer von der Unmöglichkeit, eine Verteidigungsschlacht in der neuen Stellung anzunehmen, anführte, schlug er vor, in der Nacht die Truppen von dem rechten auf den linken Flügel überzuführen und am anderen Tage den rechten Flügel der Franzosen zu überfallen. Die Meinungen waren geteilt, man sprach für und gegen diesen Plan, aber die meisten begriffen, daß dieser Kriegsrat den unvermeidliche Verlauf der Dinge nicht ändern konnte und daß Moskau bereits aufgegeben war. Malascha, welche mit Spannung verfolgte, was vorging, faßte die Bedeutung dieser Beratung anders auf, ihr schien es, daß es sich nur um einen persönlichen Kampf zwischen dem Großväterchen und dem Langschößigen handelte, wie sie Bennigsen nannte. Sie sah, daß sie sich erbosten, wenn sie miteinander sprachen, und innerlich trat sie dem Großväterchen zur Seite. Während des Gesprächs bemerkte sie einen raschen, listigen Blick des Großväterchens nach Bennigsen und darauf sah sie zu ihrer Freude, daß Großväterchen dem Langschößigen etwas sagte, was diesen ärgerte.
»Ich kann dem Plan des Grafen nicht beistimmen«, sagte Kutusow. »Eine Bewegung der Truppen in solcher Nähe des Feindes ist immer gefährlich.« Die Beratung wurde erneuert, aber es traten häufige Pausen ein und es war ersichtlich, daß weiter nichts mehr zu sprechen war.
»Ich sehe, meine Herren, ich muß für die zerschlagenen Töpfe bezahlen«, sagte Kutusow und trat zum Tisch. »Meine Herren, ich habe Ihre Meinung gehört, von welchen einige nicht mit mir übereinstimmen. Ich aber« – er hielt an –, »kraft der Gewalt, die mir von Kaiser und Vaterland anvertraut wurde, befehle ich den Rückzug!«
Darauf trennten sich die Generale feierlich und schweigend, wie nach einem Begräbnis. Einige derselben machten dem Oberkommandierenden Meldungen in ganz anderem Tone als während des Kriegsrats.