Die wichtigsten Werke von Leo Tolstoi. Leo Tolstoi
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Читать онлайн книгу Die wichtigsten Werke von Leo Tolstoi - Leo Tolstoi страница 162
In der stillen Straße hörte man schnelle Schritte, welche bei der Pforte anhielten, jemand klopfte an.
Wawra ging an die Pforte. »Wer ist da?« fragte sie.
»Ist der Graf Rostow da?«
»Wer seid Ihr denn?«
»Ich bin ein Offizier, ich muß ihn sprechen!« sagte eine angenehme, russische Stimme.
Mawra öffnete das Pförtchen. Ein etwa achtzehnjähriger Offizier mit einem runden Gesicht von Rostows Familientypus trat in den Hof. »Alles fort, Väterchen! Gestern abend geruhten sie abzufahren!« Der junge Offizier blieb unschlüssig am Pförtchen stehen.
»Ach, wie schade!« sagte er. »Gestern hätte ich sollen … ach, wie schade!« Mawra hatte inzwischen gespannt die ihr bekannten Züge der Rostowschen Rasse betrachtet, sowie den zerrissenen Mantel und die abgenutzten Stiefel, die der Offizier trug.
»Was wollten Sie vom Grafen?« fragte sie.
»Nun ja … was ist zu machen? …« sagte der Offizier und wandte sich zum Gehen. Dann blieb er wieder unschlüssig stehen.
»Sehen Sie«, sagte er, »ich bin ein Neffe des Grafen, und er war immer sehr gut gegen mich. Nun, sehen Sie«, fuhr er mit einem gutmütigen Lächeln fort, »meine Kleider sind abgerissen, und ich habe kein Geld, deswegen wollte ich den Grafen bitten …« Mawra ließ ihn nicht ausreden.
»Warten Sie doch ein Minütchen, Väterchen«, sagte sie, und sowie der Offizier die Hand von der Pforte nahm, wandte sich Mawra um und ging mit raschen Schritten durch die Hintertür nach ihrer Wohnung.
»Wie schade, daß ich Onkelchen nicht getroffen habe!« sagte der Offizier mit einem Blick auf seine zerrissenen Stiefel. »Aber eine prächtige Alte! Wo ist sie nur hingelaufen? Sie schien mich beinahe zu erkennen! Und wie soll ich nun erfahren, auf welchem Wege ich am schnellsten das Regiment einholen kann, welches sich jetzt schon Rogoschsk nähert?«
Mawra erschien wieder an der Ecke und hielt in der Hand ein eingewickeltes, kariertes Tuch. Als sie näherkam, öffnete sie das Tuch, nahm einen neuen Schein von fünfundzwanzig Rubeln heraus und reichte ihn hastig dem Offizier.
»Wäre Seine Erlaucht zu Hause gewesen, so hätte er … würde er …« Mawra wurde verlegen und verwirrt.
Aber der Offizier wies das Geld nicht zurück, nahm gemütlich das Papier und dankte Mawra.
»Wenn nur der Graf zu Hause wäre …« sagte Mawra entschuldigend. »Christus sei mit Ihnen, Väterchen! Gott schütze Sie!« fügte sie mit einem tiefen Seufzer hinzu. Der Offizier lachte, nickte mit dem Kopf und lief fast im Trab auf die leere Straße hinaus, um sein Regiment an der Jausschen Pforte einzuholen. Mawra stand noch lange Zeit mit feuchten Augen an dem verschlossenen Pförtchen, wiegte nachdenklich den Kopf und empfand einen plötzlichen Ausbruch mütterlicher Zärtlichkeit für den ihr unbekannten Offizier.
196
In einem unfertigen Hause an der Warwarkastraße, in dessen Erdgeschoß sich eine Schnapskneipe befand, hörte man betrunkenes Geschrei. Auf den Bänken vor den Tischen in dem kleinen, schmutzigen Zimmer saßen etwa zehn Fabrikarbeiter. Sie waren alle betrunken, mit Schweiß bedeckt, mit trüben Augen und sangen mit weit aufgerissenem Mund irgendein Lied. Sie sangen einzeln, mit Mühe, mit Anstrengung, augenscheinlich nicht deshalb, weil sie Lust zum Singen hatten, sondern um zu zeigen, daß sie betrunken seien und schwärmten. Einer von ihnen, ein hochgewachsener, blondlockiger Bursche in einem reinen blauen Rock stand vor ihnen. Sein Gesicht mit einer feinen, geraden Nase wäre hübsch gewesen ohne die beständig beweglichen Lippen und die trüben, finsteren, starren Augen. Während des Gesanges hörte man draußen auf der Vortreppe Geschrei und Schlagen.
»Hört auf« rief er befehlend und ging hinaus. Die anderen folgten ihm. Die Fabrikarbeiter, die in der Schenke sangen, hatten an diesem Morgen unter Anführung des hochgewachsenen Burschen dem Schenkwirt Leder aus der Fabrik gebracht und dafür Branntwein erhalten. Als die Schmiedeknechte aus einer benachbarten Schmiede davon hörten, vermuteten sie, die Schenke sei geplündert worden, und wollten hineindringen. Auf der Vortreppe entstand ein Streit.
Der Schenkwirt schlug sich mit einem Schmied, und in dem Augenblick, als die Fabrikarbeiter hinausgingen, riß sich der Schmied von dem Schenkwirt los und fiel mit dem Gesicht zur Erde. Ein anderer Schmied stürzte auf die Tür zu und fiel über den Schenkwirt her. Ein kleiner Mensch mit aufgeschlagenen Ärmeln schlug dem durch die Tür eindringenden Schmied ins Gesicht und rief mit wildem Geschrei: »Kameraden, zu Hilfe!«
Der erste Schmied erhob sich von der Erde mit blutendem Gesicht und schrie mit weinerlicher Stimme: »Hilfe! Mord! Man schlägt uns tot, Brüder!«
Eine Gruppe sammelte sich um den blutenden Schmied.
»Hast du noch nicht genug das Volk ausgeplündert?« schrie einer den Wirt an. »Warum schlägst du den Menschen?«
Der hochgewachsene Bursche, welcher auf der Vortreppe stand, blickte mit trüben Augen bald den Wirt, bald den Schmied an.
»Schurke!« schrie er plötzlich den Wirt an. »Bindet ihn, Kinder!«
»Wozu einen einzelnen binden?« schrie der Schenkwirt. Er riß sich los von den Leuten, die auf ihn zustürzten, riß die Mütze vom Kopf und warf sie auf die Erde. Als ob diese Bewegung eine geheimnisvolle, drohende Bedeutung hätte, traten die Leute unschlüssig zurück.
»Ich weiß, was sich gehört, ich gehe zur Polizei! Es ist niemand erlaubt, zu plündern!« schrie der Schenkwirt und hob die Mütze auf.
»Wir gehen auch! Wir gehen auch!« wiederholte der hochgewachsene Bursche und ging auf die Tür zu. Der blutende Schmied ging mit ihm, und die Fabrikarbeiter und anderes Volk folgten ihnen schreiend nach. Als das Gedränge sich immer mehr vergrößerte, schlich sich der Schenkwirt beiseite und kehrte nach Hause zurück. Der Anführer, welcher das Verschwinden seines Feindes, des Schenkwirts, nicht bemerkt hatte, sprach fortwährend.
An den Mauern des Kreml hatte sich eine andere kleine Gruppe um einen Menschen in einem Friesmantel gesammelt, der in den Händen ein Papier hielt.
»Ein Ukas! Ein Ukas wird vorgelesen!« schrie die Menge und drängte sich um den Vorleser. Er blickte erschreckt die Menge an und las auf allgemeines Verlangen mit zitternder Stimme die Ankündigung von Anfang an.
»Morgen früh gehe ich zum Durchlauchtigsten Fürsten, um mich mit ihm zu beraten und zu handeln und den Truppen zu helfen, die Bösewichte auszurotten! Wir werden ihnen den Atem ausblasen und diese Gäste zum Teufel schicken! Zum Mittag komme ich zurück und dann werden wir handeln und die Bösewichte vertreiben.«
Alles schwieg. Niemand schien die letzten Worte verstanden zu haben. Das war alles viel zu einfach. Das war so, wie jeder von ihnen hätte sprechen können. Alle standen in weinerlichem Schweigen umher.