Die wichtigsten Werke von Leo Tolstoi. Leo Tolstoi
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Читать онлайн книгу Die wichtigsten Werke von Leo Tolstoi - Leo Tolstoi страница 165
»Eine Volksmenge ist schrecklich und widerlich!« dachte er. »Wie die Wölfe kann man sie mit nichts befriedigen, außer mit Fleisch!« – »Graf, nur Gott ist über uns!« fielen ihm plötzlich die Worte Wereschtschagins ein und ein unangenehmer Frost überfiel seinen Rücken. Aber das war vorübergehend, und Graf Rostoptschin lächelte verächtlich über sich selbst. »Ich habe andere Pflichten«, dachte er, »noch viel größere Opfer müßten dem allgemeinen Wohl gebracht werden! Wereschtschagin war ein Verräter und durfte nicht ungestraft bleiben, und so habe ich mit einem Schlag zwei Fliegen getroffen, ich habe dem Volk ein Opfer zur Beruhigung gegeben und einen Bösewicht bestraft.«
Als er in seinem Hause angekommen war und verschiedene häusliche Anordnungen traf, hatte er sich vollkommen beruhigt. Nach einer halben Stunde fuhr er in raschem Lauf über das Feld von Sokolniki und erinnerte sich nicht mehr an das Geschehene, sondern dachte nur an das, was kommen werde. Jetzt fuhr er an die Jaussche Brücke, wo, wie man ihm sagte, Kutusow war. Er bereitete diejenigen zornigen und scharfen Vorwürfe vor, welche er Kutusow für seine Enttäuschung sagen wollte. Das Feld von Sokolniki war ganz verödet und am Ende desselben, wo »das gelbe Haus« stand, wie das Irrenhaus vom Volk genannt wurde, sah man verschiedene Gestalten in weißen Hemden und einige solche Leute, welche allein, schreiend und mit wilden Gebärden über das Feld liefen. Einer derselben kam auf die Kutsche des Grafen Rostoptschin zu. Der Graf, der Kutscher und die Dragoner blickten mit Entsetzen und Neugierde nach diesen freigelassenen Wahnsinnigen und besonders nach dem, der ihnen entgegengelaufen kam. Auf seinen dünnen, hageren Beinen schwankend, in einem weißen, flatternden Schlafrock lief der Wahnsinnige Rostoptschin entgegen und schrie ihm mit heiserer Stimme zu, er solle halten.
»Halt! sage ich!« schrie er mit heftigen Gebärden. Als er den Wagen erreicht hatte, lief er neben ihm her. »Dreimal hat man mich totgeschlagen und dreimal bin ich von den Toten auferstanden, sie haben mich mit Steinen erschlagen, ich aber stehe immer wieder auf«, schrie er.
Der Graf erbleichte, wie in dem Augenblick, als die Menge sich auf Wereschtschagin stürzte, und wandte sich ab.
»Fort! Fort!« schrie er dem Kutscher mit zitternder Stimme zu. Er fühlte, daß diese Erinnerung sich tief in sein Herz eingegraben hatte und daß ihre blutige Spur niemals verschwinden, daß im Gegenteil diese entsetzliche Erinnerung bis zu seinem Ende in seinem Herzen leben werde. Jetzt glaubte er seine eigenen Worte zu hören: »Schlagt ihn nieder!« – »Warum habe ich das gesagt? Das habe ich ohne meinen Willen ausgesprochen, ich konnte nicht anders.« Er sah das erschrockene und gleich darauf wuterfüllte Gesicht des Dragoners und den Blick schweigenden Vorwurfs, welchen dieser junge Bursche in dem Fuchspelz ihm zugeworfen hatte.
»Aber ich habe es nicht für mich getan, ich mußte so handeln. Die Menge … der Bösewicht… das allgemeine Wohl…« dachte er.
An der Jausschen Brücke drängten sich noch immer die Truppen. Es war heiß. Kutusow saß erschöpft auf einer Bank bei der Brücke und spielte mit der Peitsche im Sand, als der Wagen geräuschvoll vor ihm anhielt. Ein Mann in Generalsuniform trat mit halb erschrockenen, halb wütenden, unsteten Blicken auf Kutusow zu und redete ihn französisch an. Das war der Graf Rostoptschin. Er sagte Kutusow, er sei hierhergekommen, weil Moskau und die Residenz nicht mehr seien, sondern nur noch die Armee. »Es wäre alles anders gekommen, wenn Euer Durchlaucht mir nicht gesagt hätten, Sie werden Moskau nicht übergeben, ohne zuvor noch eine Schlacht zu schlagen«, sagte er.
Kutusow blickte ihn verstört an, als ob er ihn nicht verstanden habe. Rostoptschin schwieg, Kutusow wiegte den Kopf und ohne seine forschenden Blicke von Rostoptschin abzuwenden, erwiderte er leise: »Ja, ich werde Moskau nicht übergeben, ohne eine Schlacht zu schlagen.« Graf Rostoptschin gab keine Antwort und entfernte sich rasch von Kutusow, und seltsam! Der Oberkommandierende von Moskau, der stolze Graf Rostoptschin, nahm die Peitsche in die Hand, trat an die Brücke und begann mit lautem Geschrei die zusammengedrängten Banden auseinanderzujagen.
199
Um vier Uhr nachmittags rückten die Truppen Murats in Moskau ein. Hinter einer Abteilung Husaren ritt der König von Neapel mit großer Suite. Am Eingang der Stadt hielt der König, um Nachricht von der Vorhut zu erhalten, in welchem Zustand sich die im Zentrum Moskaus gelegene Burg, der Kreml, befinde. Einige in Moskau zurückgebliebene Einwohner sammelten sich um Murat und starrten mit schüchterner Neugierde die seltsame Erscheinung des langhaarigen, mit Federn und Gold geschmückten Königs an.
»Ist er das selbst, ihr Kaiser?« fragten einige.
»Die Mützen ab!« sprachen die Leute unter sich.
Murat ließ durch einen Dolmetscher fragen, wo die russischen Truppen seien, und ob es weit bis zum Kreml sei. Mit Mühe verstanden einige Leute diese Fragen und beantworteten sie. Ein Offizier kam von der Vorhut und meldete Murat, die Türen des Kreml seien geschlossen.
»Gut«, sagte Murat und beauftragte einen der Herren seiner Suite, vier leichte Geschütze aufstellen und das Tor beschießen zu lassen.
Die Artilleristen fuhren im Trabe aus der Kolonne hervor, welche Murat folgte, und stellten sich auf dem Platz vor dem Kreml auf. Einige Offiziere beobachteten den Kreml mit Fernrohren. Im Kreml wurde zur Abendmesse geläutet, und dies hielten die Franzosen für ein Alarmzeichen. Einige Infanteristen liefen zur Kutafjewschen Pforte. Der Torweg war verrammelt. Zwei Flintenschüsse krachten aus dem Torweg heraus, sobald ein Offizier mit einigen Soldaten sich näherte. Der General, der bei den Kanonen stand, rief dem Offizier noch ein Kommando zu, und dieser kam mit den Soldaten im Lauf zurück.
Dann hörte man noch drei Schüsse vom Kreml her, ein Schuß traf einen französischen Soldaten am Bein, und man hörte hinter der Barrikade hervor ein seltsames Geschrei verschiedener Stimmen. Auf den Gesichtern des französischen Generals, der Offiziere und der Soldaten verschwand gleichzeitig wie auf Kommando der frühere Ausdruck ruhiger Heiterkeit und wurde durch den Ausdruck hartnäckiger Kampfbereitschaft ersetzt. Inzwischen waren die Rufe von der Pforte her verstummt, die Kanonen wurden vorgeschoben, die Artilleristen bliesen die Lunten an, ein Offizier kommandierte Feuer und zwei Schüsse donnerten nacheinander. Die Kartätschenkugeln prasselten auf den Steinen, Mauern, Balken, und zwei Rauchwolken verbreiteten sich über den Platz. Eine einzelne Menschenstimme antwortete von der Pforte her, und in den Rauchwolken erschien die Gestalt eines Mannes in einem Kaftan, ohne Mütze. Er hielt ein Gewehr und zielte auf die Franzosen.
»Feuer!« kommandierte der Artillerieoffizier, und zu gleicher Zeit ertönten zwei Kanonenschüsse und ein Flintenschuß. Wieder hüllte der Rauch die Mauern ein.
Im Kreml rührte sich jetzt nichts mehr, und französische Soldaten mit Offizieren näherten sich der Pforte. Im Torweg lagen drei Verwundete und vier Tote, zwei Männer in Kaftanen liefen längs der Mauern nach der Snamenkastraße hinab.
»Nehmt das weg!« sagte der Offizier und deutete auf die Balken und Leichen. Wer diese Leute waren, hat niemand erfahren, es hieß nur: »Nehmt das weg!« Nur Thiers hat ihnen einige hochtrabende Zeilen gewidmet.
Murat wurde gemeldet, daß der Weg frei sei. Die Franzosen marschierten ein und errichteten ein Lager auf dem Senatsplatz. Die Soldaten warfen Stühle zu den Fenstern des Senatsgebäudes auf den Platz hinaus und machten Feuer an. Andere Abteilungen marschierten am Kreml vorüber und verbreiteten sich in die Stadt. Überall richteten sich die Franzosen, da sie keine Einwohner vorfanden, nicht wie in einem städtischen Quartier ein, sondern wie in einem Lager, das sich in einer Stadt befindet. Obgleich