Die wichtigsten Werke von Leo Tolstoi. Leo Tolstoi
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»Was will das Volk?« schrie er die Leute an, welche sich schüchtern der Droschke näherten. »Was ist das für Volk?« fragte er sie.
»Sie wollten nur die Ankündigung hören, Graf«, sagte der Mann im Friesmantel. »Es sind keine Aufrührer!«
»Der Graf ist noch hier und wird Anordnungen in bezug auf euch treffen!« sagte der Polizeimeister. »Vorwärts!« rief er dem Kutscher zu. Die Leute blieben stehen, drängten sich um diejenigen, welche gehört hatten, was der Beamte gesprochen hatte, und blickten der Droschke nach. Der Polizeimeister aber blickte sich ängstlich um, rief dem Kutscher etwas zu, worauf die Pferde rascher davonrannten.
»Das ist Betrug, Kinder!« schrie die Stimme des hochgewachsenen Burschen. »Laßt ihn nicht fort, Kinder! Er soll Rechenschaft geben! Haltet ihn! Haltet!« schrien verschiedene Stimmen, und das Volk lief der Droschke nach. Die Menge bewegte sich lärmend nach der Lubjankastraße zu.
»Was soll das heißen? Die Herren und die Kaufleute sind davongefahren, und wir gehen hier zugrunde! Sind wir etwa Hunde?« schrien verschiedene Stimmen aus der Menge.
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Am Abend des 1. September kehrte Graf Rostoptschin, nach seiner Begrüßung mit Kutusow, erzürnt und beleidigt darüber, daß man ihn nicht zum Kriegsrat eingeladen hatte, nach Moskau zurück. Nachdem er zu Abend gespeist hatte, legte er sich angekleidet auf einen Diwan, und um ein Uhr nachts wurde er von einem Kurier geweckt, der ihm einen Brief von Kutusow brachte. Der Brief enthielt eine Aufforderung, einige Polizisten zu senden, um die durchmarschierenden Truppen zu führen, die sich nach Räsan zurückziehen werden. Diese Nachricht war Rostoptschin nicht neu. Alle Generale, welche er auf der Durchreise gesehen hatte, hatten erklärt, es sei unmöglich, noch eine Schlacht zu schlagen. Dennoch erschütterte ihn diese Nachricht, die er plötzlich um Mitternacht in Form eines einfachen Befehls von Kutusow erhielt, aufs tiefste.
In der Folge äußerte Rostoptschin in seinen Memoiren mehrmals, er habe damals zwei wichtige Zwecke verfolgt, die Ruhe Moskaus zu sichern und die Einwohner hinauszuführen.
Wenn man diese beiden Zwecke anerkennen will, so erscheint Rostoptschin vorwurfsfrei. Warum wurden aus Moskau die Heiligtümer, Waffen, Patronen, Pulver, Getreidevorräte nicht fortgeführt? Warum wurden Tausende von Einwohnern getäuscht mit der Behauptung, Moskau werde nicht übergeben werden? – »Deshalb, um die Ruhe der Residenz zu sichern!« lautete die Erklärung, die Rostoptschin gab. Man braucht nur zuzugeben, daß die öffentliche Ruhe bedroht sei, und jede Maßregel erscheint gerechtfertigt. Aber warum fürchtete Rostoptschin für die öffentliche Ruhe im Jahre 1812? Welchen Anlaß hatte er, an eine Neigung zum Aufstand zu glauben? Die Einwohner waren geflohen, die abziehenden Truppen erfüllten Moskau. Warum sollte infolgedessen das Volk Au stände anregen? Weder in Moskau noch im übrigen Rußland ereignete sich beim Einmarsch des Feindes irgend etwas wie ein Aufstand. Am 1. und 2. September waren noch mehr als zehntausend Menschen in Moskau geblieben und es war nichts vorgekommen außer der Ansammlung einer Menschenmenge im Hof des Gouverneurs, welche er selbst veranlaßt hatte. Es wäre also jedenfalls noch weniger ein Volksaufstand zu erwarten gewesen, wenn Rostoptschin nach der Schlacht bei Borodino, wo die Räumung der Stadt schon vorauszusehen war, Anstalten getroffen hätte, um alle Heiligtümer, Kriegsvorräte und Kassen fortzuschaffen, und dem Volk offen angekündigt hätte, daß die Stadt geräumt werde.
Rostoptschin, ein hitziger, sanguinischer Mensch, hatte nicht den geringsten Begriff von dem Volk, das er zu regieren meinte, und glaubte es mit seinen Ankündigungen zu lenken. Die schöne Rolle eines Lenkers der Volksgefühle gefiel Rostoptschin so sehr, daß die Notwendigkeit, sie aufzugeben und Moskau ohne jeden heroischen Effekt zu verlassen, ihn ganz aus der Fassung brachte. Obgleich er wußte, daß Moskau aufgegeben werden mußte, so tat er doch nichts in bezug darauf. Die Einwohner zogen gegen seinen Wunsch davon, er war nur mit der Rolle beschäftigt, welche er sich vorbehalten hatte.
Aber als die Ereignisse ihren wirklichen, historischen Umfang annahmen, als die Worte sich ungenügend erwiesen, als die Bevölkerung ihre Habe verließ und aus Moskau hinausströmte, verlor seine Rolle allen Sinn, er fühlte sich allein, schwach und verwirrt, ohne Boden unter den Füßen.
Diese ganze Nacht erteilte Rostoptschin Befehle, welche von allen Seiten von ihm verlangt wurden. Seine Umgebung hatte ihn nie so finster und reizbar gesehen.
»Nun, sage diesem Dummkopf«, antwortete er auf eine Frage aus dem Domänenhof, »er soll hierbleiben und seine Papiere bewachen!«
»Was fragst du für Unsinn über die Feuerwehr? Sie hat doch Pferde, also kann sie nach Wladimir fahren, damit sie nicht den Franzosen in die Hände fällt.«
»Erlaucht«, kam der Aufseher vom Irrenhaus, »was befehlen Sie wegen der Irren?«
»Was ich befehle? Lasse sie alle laufen, wohin sie wollen! Wenn bei uns die Verrückten die Armee kommandieren, so ist es so der Wille Gottes.« Auf die Frage nach den Verbrechern im Gefängnis schrie der Graf zornig den Direktor an: »Was, soll ich dir zwei Bataillone zur Bedeckung geben! Die sind nicht da! Lasse sie alle laufen!«
»Erlaucht, es sind auch politische darunter, Mjeschkow Wereschtschagin.« »Wereschtschagin? Ist er noch nicht gehängt?« rief Rostoptschin. »Führe ihn her!«
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Um neun Uhr morgens, als die Truppen schon durch Moskau zogen, kam niemand mehr, um Befehle vom Grafen zu verlangen. Alles, was flüchten konnte, floh von selbst, diejenigen, welche zurückblieben, entschieden selbst, was sie zu tun hatten. Der Graf hatte Pferde verlangt, um nach Sokolniki zu fahren, und saß gelb und schweigend in seinem Kabinett.
Der Polizeimeister, welcher der Menge entgangen war, und der Adjutant, der melden kam, daß die Pferde bereit seien, traten zu gleicher Zeit ein. Beide waren bleich, und der Polizeimeister meldete, daß draußen eine große Menschenmenge versammelt sei, die ihn sehen wolle.
Rostoptschin gab keine Antwort, stand auf, begab sich mit schnellen Schritten in seinen prachtvollen, hellen Salon und ging auf die Balkontür zu, trat dann aber an ein Fenster, aus welchem er die Menge übersehen konnte. Der große Bursche stand in der vordersten Reihe und sprach mit strenger Miene und lebhaften Gebärden. Der blutende Schmied mit dem finsteren Aussehen stand neben ihm. Durch die verschlossenen Fenster vernahm man ein wildes Stimmengewirr.
»Ist die Equipage bereit?« fragte Rostoptschin.
»Zu Befehl, Erlaucht«, sagte der Adjutant.
»Was wollen die Leute?« fragte er den Polizeimeister.
»Erlaucht, sie sagen, sie wollen den Franzosen entgegengehen auf Ihren Befehl, und schreien auch etwas von Verrat. Es ist eine wilde Menge, Erlaucht! Ich bin ihnen kaum entgangen! Ich wage Ihnen vorzuschlagen …« »Gehen Sie! Ich weiß selbst, was ich zu tun habe!« schrie Rostoptschin zornig.
»Dahin haben sie Rußland und mich gebracht«, dachte er. Wie es bei hitzigen Leuten oft geschieht, beherrschte ihn schon die