Gesammelte Romane und Erzählungen von Robert Louis Stevenson. Robert Louis Stevenson

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sie getrost lächeln durfte; trotzdem hielt das Gefühl, daß sein Blick auf ihr ruhe (während er in Wahrheit an Torrance und dessen Handschuhen haftete), sie bis zu dem Amen in gelinder Erregung. Selbst dann war sie noch viel zu wohlerzogen, um ihrer Neugier durch Ungeduld zu frönen. Lässig – das war eine Glasgower Nuance – ordnete sie ihren Anzug, zupfte ihren Strauß Himmelsschlüssel zurecht, blickte erst gerade vor, dann hinter sich und gestattete ihren Augen, endlich ohne jede Hast auch nach dem Hermistoner Kirchenstuhl hinüberzuschweifen. Einen Augenblick hafteten sie dort wie gebannt. In der nächsten Sekunde kehrte ihr Blick zu ihr zurück, gleich einem zahmen Vogel vor der Flucht. Möglichkeiten stürmten auf sie ein; schwindelnd bedachte sie die Zukunft; das Bild dieses jungen Mannes, schlank, reizvoll, dunkel, mit jenem unergründlichen, schattenhaften Lächeln, zog sie an und stieß sie ab gleich einem Abgrund. Ob ich wohl meinem Schicksal begegnet bin? fragte sie sich selbst, und ihr schwoll das Herz in der Brust.

      Heute behandelte Torrance einen besonders heiklen Punkt der Gottesgelehrtheit und war bereits ziemlich weit mit seinem ersten Abschnitt gediehen, wobei er im Vordringen sich eine feste Grundlage aus Bibeltexten aufbaute, ehe Archie seinerseits sich umschaute. Sein Blick fiel zuerst auf Clem, der unausstehlich satt und behäbig aufsah und Torrance großmütig durch halbe Aufmerksamkeit begönnerte, wie jemand, der von Glasgow her Besseres gewohnt ist. Obwohl er ihn nie zuvor gesehen hatte, wußte Archie doch sofort, wer er war, und fand ihn auch sogleich vulgär, den schlimmsten Typ der Familie. Clem beugte sich gerade faul vor, als Archie ihn zuerst erblickte. Schließlich lehnte er sich nonchalant in seinen Stuhl zurück, und plötzlich ward jene tödliche Waffe, das Mädchen, im Profil demaskiert. Obwohl nicht ganz auf der Höhe der Mode stehend (wer fragte hier schon danach), hatten gewisse kunstgerechte Glasgower Mantillenmacherinnen und ihr eigener natürlicher Geschmack sie sehr vorteilhaft herausgeputzt. Ja, ihr Anzug hatte in jener winzigen Gemeinde viel brennendes Herzweh und fast einen Skandal hervorgerufen. Mrs. Hob hatte ihr bereits in Cauldstaneslap die Meinung gesagt. »Verrückt!« lautete ihr Urteil. »Eine Jacke, die vorn nicht schließt! Was für ‘n Sinn hat sie denn, wenn man sie nicht zuknöpfen kann und man damit in den Regen kommt? Und wie nennt man die Dinger an deinen Füßen da? Demmi Brokins, Demi-broquins sagst du? Brocken werden sie sein, ehe du damit wieder nach Hause kommst! Na, mich geht’s ja nichts an – aber ich sag’ nur – guter Geschmack ist es nicht!« Clem, dessen Portemonnaie diese Metamorphose seiner Schwester bewirkt hatte und der gegenüber der Reklame, die sie für ihn machte, nicht empfänglich war, eilte ihr zu Hilfe. »Unsinn, Weib! Was verstehst du schon von Geschmack, wo du nie in der Stadt gewesen bist?« Und Hob, der mit wohlgefälligem Lächeln das Mädchen musterte, während sie ängstlich in der dunklen Küche ihren Staat präsentierte, hatte die Diskussion mit den Worten beendet: »Hübsch sieht die kleine Katze aus; und regnen wird’s wahrscheinlich auch nicht. Trag die Sachen ruhig heute am Sonntag, Mädel; aber es ist nichts, was man zur Gewohnheit machen soll.« Im Busen ihrer Rivalinnen, die im allzu deutlichen Bewußtsein weißer Unterröcke und mit Gesichtern, die von vieler Seife glänzten, zur Kirche gegangen waren, hatte der Anblick von Christinas Toilette einen Sturm mannigfaltigster Gefühle entfesselt, von einfacher, neidischer Bewunderung angefangen, die sich in einem einzigen, langgezogenen »Ah!« ausdrückte, bis zu jener zornigeren und in den Worten sich Luft machenden Empfindung: »An den Schandpfahl gehört sie!« Ihr Kleid war aus strohfarbenem Seidenmusselin, vorn tief ausgeschnitten und unten fußfrei, um ihre Demi-broquins aus violettem Leder zu zeigen, die mit vielen Schnüren über einem gelben, in Spinnwebmustern gewirkten Strumpf befestigt waren. Nach der hübschen Mode, der unsere Großmütter unbedenklich folgten und mit der bewaffnet unsere Großtanten auszogen, um unsere Großonkel zu erobern, war das Kleid zugeschnitten, um die Formen der Brüste hervortreten zu lassen, und wurde in dem Einschnitt zwischen beiden von einer Brosche aus Rauchtopas gehalten. Hier, ebenfalls in einer sehr beneidenswerten Lage, zitterte der Strauß Himmelsschlüssel. Um die Schultern – oder auf dem Rücken vielmehr, denn er reichte kaum darüber hinaus – trug sie einen Mantel aus Florentiner Taft, der auf der Brust mit Margate-Bändern von der gleichen violetten Farbe wie ihre Schuhe festgebunden war. Ihr Gesicht umrahmte eine Flut wirrer, dunkler Locken; ein zierlicher Kranz gelber, französischer Rosen umwand ihre Stirn, und das Ganze krönte ein ländlicher Hut aus grobem Stroh. Unter all den roten und wettergebräunten Gesichtern ihrer Umgebung erglühte sie gleich einer offenen Blume: Mädchen und Kleidung, der Rauchtopas, der die Sonnenstrahlen auffing und blitzend zurückwarf, ja selbst die bronzenen und goldenen Fäden in ihrem Haare funkelten.

      Archie fühlte sich von dem Hellen angezogen wie ein Kind. Er sah sie an, wieder und immer wieder, und ihre Blicke kreuzten sich. Ihre Lippen öffneten sich leise und ließen ihre kleinen Zähne frei. Er sah das rote Blut lebhaft unter der braungoldenen Haut aufsteigen. Ihr Auge, groß wie bei einem Hirsch, begegnete dem seinen, hielt es fest. Er wußte, wer sie sein mußte – Kirstie, das Mädchen mit dem hartklingenden Rufnamen, die Nichte seiner Haushälterin, die Schwester des rustikalen Propheten, Gibs –, und er fand in ihr die Antwort auf all seine Wünsche. Christina fühlte den elektrischen Funken der sich treffenden Blicke, und es war ihr, als entschwebe sie, ganz in Lächeln gekleidet, in mystisch-strahlende Regionen. Aber ihr Entzücken war so kurz, wie es vollkommen war. Hastig blickte sie weg und begann sich sogleich ob dieser Hast zu tadeln. Sie wußte, was sie hätte tun müssen, als es bereits zu spät war – langsam, die Nase in der Luft, hätte sie sich wegdrehen müssen. Inzwischen aber blieb sein Blick an ihr haften und schien sie zu bestürmen gleich einer Batterie trefflich gerichteter und in fortgesetzter Tätigkeit befindlicher Geschütze; jetzt schien er sie und sich völlig zu isolieren, jetzt wieder hob er sie vor der ganzen Gemeinde gleichsam auf den Pranger. Archie fuhr fort, mit den Augen ihr Bild zu trinken, ähnlich dem Wanderer, der am Berge auf eine Quelle stößt und sein Gesicht eintaucht und sich nicht satt trinken kann. Das feurige Auge des Topas und die blassen Blüten der Primeln in der Kerbe ihrer kleinen Brüste bannten ihn. Er sah, wie diese Brüste sich hoben und senkten, und fragte sich verwundert, was das Mädchen wohl so erregen könne. Und Christina fühlte wieder diesen Blick, nahm ihn wahr – vielleicht mit dem graziösen Spielzeug von Ohr, das unter ihren Locken hervoräugte; sie fühlte, wie sie die Farbe wechselte, fühlte ihren unruhigen Atem. Gleich einem Geschöpf der Wildnis, das sich gehetzt, eingeholt und allseits umstellt sieht, fahndete sie nach einem Dutzend Auswege, um ihre Fassung wiederzuerlangen. Sie holte ihr Taschentuch hervor – es war wirklich ein sehr feines – und steckte es erschrocken wieder ein: »Er glaubt vielleicht, mir wäre zu heiß.« Sie fing an, in den metrischen Psalmen zu lesen, und erinnerte sich plötzlich, daß ja die Predigt im Gange wäre. Endlich steckte sie sich eine gezuckerte Pflaume in den Mund und bereute bereits im nächsten Augenblick diesen Schritt. Was für ein hausbackenes Benehmen! Mr. Archie würde bestimmt niemals in der Kirche Süßigkeiten essen; mit gewaltiger Anstrengung schluckte sie das Ganze hinunter, und sofort war ihr Gesicht eine einzige Flamme. Bei diesem Zeichen tödlicher Verlegenheit erwachte Archie zum Bewußtsein seines schlechten Benehmens. Was hatte er nur getan? Er war in der Kirche unerhört unhöflich zu seiner Haushälterin Nichte gewesen; er hatte gleich einem Lakai und Libertin ein schönes und züchtiges Mädchen angestarrt. Es war möglich, ja sogar wahrscheinlich, daß man ihn nach dem Gottesdienst auf dem Friedhof vorstellen würde, und wie würde er dann dastehen? Es gab für ihn keine Entschuldigung. Er hatte die Zeichen ihrer Scham, ihrer wachsenden Empörung bemerkt, und er war ein solcher Esel, daß er sie nicht einmal begriffen hatte. Scham lastete jetzt auf ihm, und er blickte resolut zu Mr. Torrance hinüber. Dieser brave, würdige Mann ahnte freilich nicht, während er fortfuhr, das Werk der Erlösung durch den Glauben zu erläutern, was in Wahrheit sein Amt war: nämlich zwei Kindern gegenüber bei dem uralten Spiel des Sichverliebens die Rolle des Blitzableiters zu spielen.

      Anfänglich verspürte Christina eine ungeheuere Erleichterung. Es war ihr, als ginge sie plötzlich nicht mehr nackt. Sie überdachte das Geschehene. Alles wäre ganz in Ordnung gewesen, wenn sie nur nicht rot geworden wäre! Dumme Närrin! Was gab es da zu erröten, selbst wenn sie eine Zuckerpflaume gegessen hatte! Mrs. Mac Taggert, die Frau des Kirchenvorstehers von St. Enoch, tat das häufig. Und wenn er sie schon angeblickt hatte – was war natürlicher, als daß ein junger Mann das bestangezogene Mädchen in der Kirche sich ansah? Gleichzeitig wußte sie genau, daß dies nicht stimmte; sie wußte, in dem Blick hatte nichts Zufälliges, Alltägliches gelegen, und sie schätzte sich selbst höher

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